Noch vor drei Jahrzehnten wäre ein solches Festival mit Musikern aus allen Ostsee-Anrainern hier undenkbar gewesen. Seit mittlerweile 25 Jahren aber ist das Usedomer Musikfestival Begegnungsort und Bühne – für Klassik, Chanson, Jazz und Folklore.
Auf die Badesaison folgt die Kultursaison. Wenn nur noch Hartgesottene schwimmen und die meisten Strandkörbe bereits im Winterquartier stehen, finden sich auf Usedom pünktlich zum Beginn des Musikfestivals die Konzertfans ein.
Seit 25 Jahren gibt es die Veranstaltungsreihe – das Jubiläum wird nun mit Musik aus sämtlichen Ostsee-Anrainerstaaten gefeiert. „In drei prall gefüllten Wochen können Besucher auf der Sonneninsel Usedom die ganze musikalische Vielfalt der Ostseeregion erleben", sagt Festival-Intendant Thomas Hummel. Und Dramaturg Jan Brachmann geht ins Detail: „Bei dieser Festivalausgabe begegnen sich schwedischer Jazz und russische Kammermusik, estnische Choräle und dänische Kantaten. Aber auch norwegische Lieder und polnische Klaviermusik, litauische Tänze und deutsche Sinfonien, lettische Naturklangbilder und finnische Tangos."
Jan Brachmann erinnert sich an die Vorläufer des Festivals: „Da taten sich ein paar Geschäftsleute auf der Insel zusammen, um die Saison nach Ende der Sommerferien zu verlängern. Die Veranstaltungen begannen bereits Ende August und dauerten eine Woche." Ehrenschirmherr wurde der Dirigent Kurt Masur. Seine Ehefrau, Tomoko Sakurai-Masur, eröffnete am 9. September 1994 auf der Seebrücke von Heringsdorf das erste Usedomer Musikfestival.
Inzwischen umfasst das Programm rund 40 Veranstaltungen in einem Zeitraum von drei Wochen. Sinfoniekonzerte markieren Beginn und Abschluss; dazwischen steht eine Vielfalt kleiner Besetzungen: Liederabende, Klavier- oder Kammermusik. Veranstaltungsorte sind die prächtigen Hotelbauten aus der Kaiserzeit, uralte Dorfkirchen oder aber idyllisch gelegene Schlösser und Herrenhäuser – auf der gesamten Insel; auch im stillen Hinterland, das die strandsüchtigen Touristen meist links liegen lassen.
„Ein Grund für den Erfolg des Festivals ist die strenge thematische Fokussierung", erklärt Brachmann. Geografie wird hier zum Programm. Im Mittelpunkt steht die Ostsee als gemeinsamer Kulturraum unterschiedlicher Völker. Bislang widmete sich das Festival jedes Jahr einem anderen Ostsee-Anrainerstaat. Weges des Jubiläums lautet das Motto nun „Zehn Länder – ein Meer".
Die großen Sinfoniekonzerte finden im Museums-Kraftwerk von Peenemünde statt, dem größten Industriedenkmal Mecklenburg-Vorpommerns. Einst wurde hier Strom für das größte Rüstungsprojekt des Dritten Reiches erzeugt, die Forschung an geheimen „Wunder-Waffen". Nun dient die riesige Turbinenhalle als Konzertsaal.
40 Veranstaltungen in drei Wochen
Die Eröffnung am 22. September bestreitet das Hausorchester des Festivals, das Baltic Sea Philharmonic, mit seinem Chef, dem estnischen Dirigenten Kristjan Järvi. 2008 wurde es als Jugend-Ensemble gegründet; inzwischen ist es ein Profi-Orchester. Es spiegelt die Philosophie der Veranstaltungsreihe wider, stammen doch die Musiker aus dem gesamten Ostsee-Raum.
Noch vor drei Jahrzehnten wäre eine solche Besetzung undenkbar gewesen, die Region war damals vom Eisernen Vorhang zerschnitten. In manchem sind sich die zehn Ostsee-Nationen jedoch nach wie vor fremd. In den Proben geht es daher nicht nur um das Einstudieren der Partituren, sondern auch darum, gemeinsame Traditionen zu entdecken und kulturelle Unterschiede wie etwa verschiedene Interpretationsweisen zu überbrücken.
Integrationsfigur Kristjan Järvi, der als Dirigent das Niveau des Ensembles durch eine Mischung von knallharter Probenarbeit und ansteckender Begeisterung stetig steigert. Wo immer das Baltic Sea Philharmonic die Bühne betritt, brennt die Luft, ist das Adrenalin förmlich mit den Händen zu greifen.
Im Eröffnungskonzert erklingt Musik aus Polen, Finnland und dem Baltikum – allesamt Staaten, die vor genau hundert Jahren erstmals unabhängig wurden.
Insbesondere der Austausch mit Polen, das sich mit Deutschland das Gebiet Pommerns samt Usedom teilt, gehört zur Grundphilosophie des Festivals. Polen bildete bereits zweimal den Länderschwerpunkt. Schon vor der Osterweiterung des Schengen-Raumes – damals gab es noch Grenzkontrollen und einen Zaun quer über den Strand, heute kaum mehr vorstellbar – veranstalteten Thomas Hummel und sein Team Konzerte auf der polnischen Nachbarinsel Wollin und in Swinemünde, das heute Świnoujście heißt.
„Es gibt wohl keinen schöneren Ort, um deutsch-polnische Begegnungen zu feiern. Seit dem Wegfall der Grenzkontrollen haben wir viel mehr Konzertbesucher aus Polen", meint der Intendant. „Auch in diesem Jahr wollen wir die reiche Musiktradition unserer Nachbarn und die vielfältigen Verflechtungen zwischen beiden Ländern beleuchten."
Am 29. September steht eine musikalische Bus-Rundfahrt über die polnische Insel Wollin auf dem Programm, die zusammen mit Usedom die Pommersche Bucht bildet. Nachmittags erklingt in der Wolliner Nikolaikirche Johann Sebastian Bachs berühmte „h-Moll-Messe", aufgeführt von der Chorakademie Lübeck und dem Goldberg Baroque Ensemble aus Danzig. In der Nikolaikirche wurde übrigens der Reformator Johannes Bugenhagen getauft, der Luthers Ideen in Norddeutschland und Dänemark verbreitete.
Am 11. Oktober tritt dann das C/O Chamber Orchestra im Swinemünder Kulturhaus auf; mit einer „Nordischen Serenade" bestehend aus dänischer, schwedischer und polnischer Musik. Neben den engen Beziehungen nach Polen begleitet ein renommierter internationaler Nachwuchswettbewerb das Festival seit seinen Anfängen. Der vor drei Jahren verstorbene Ehrenschirmherr Kurt Masur rief 1995 eine Kooperation mit dem in den USA stattfindenden Wettbewerb „Young Concert Artists" ins Leben. Alljährlich treten auf Usedom Sieger der New Yorker Endrunde sowie des in Leipzig stattfindenden Europa-Finales auf.
Deutsch-polnische Begegnungen
Drei Preisträger, die nun Ende September nach Usedom kommen, haben allesamt asiatische Wurzeln: Soo-Been Lee wurde von der Jury als „das heißeste Geigenwunderkind Koreas" gehandelt. Der Pianist Nathan Lee trat bereits als Neunjähriger zusammen mit einem Orchester auf. Dritte im Bunde ist Hanzhi Wang, die erstmals in der fast 60-jährigen Geschichte des Wettbewerbs dem Akkordeon zum Sieg verhalf.
Die Akkordeonistin tritt in einer Dorfkirche auf dem Lieper Winkel auf, einer dünn besiedelten Halbinsel, die sich ins Achterwasser schiebt. So lernt man beim Usedomer Musikfestival auch das ruhige Hinterland der Insel kennen. Regelmäßig geht es auch über holprige Alleen an die verschlafene Küste des Stettiner Haffs, ins Schloss Stolpe. Der einstige Stammsitz der Grafen von Schwerin wird heute von Fledermäusen und einer Katzenschar bewohnt.
Auf Schloss Stolpe veranstaltet das Usedomer Musikfestival alljährlich einen Meisterkurs mit dem bekannten litauischen Cellisten David Geringas. Seit 2005 bringt er hier begabten Nachwuchs-Cellisten den rechten Bogenstrich und Feinheiten der Interpretation bei. Wenn alle gemeinsam spielen, brummt das alte Renaissance-Gemäuer geradezu. Das halbe Dorf ist an der Durchführung des Meisterkurses beteiligt. Die einen beherbergen Musiker; andere kochen oder bringen das Schloss auf Hochglanz.
Am 1. Oktober stellen die jungen Meisterschüler dann ihre erarbeiteten Stücke vor. Ansonsten kann das Publikum während des dreiwöchigen Festivals jede Menge Stars aus dem Ostseeraum erleben: von der dänischen Sängerin Gitte Hænning über die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter bis hin zum Mundharmonika-Quartett Sväng aus Finnland.