Die Neckarsulmer Sport-Union hat ein hierzulande einmaliges Pilotprojekt mit einem von Wirtschafts-Unternehmen finanzierten Profi-Schwimm-Kader gestartet – mit Erfolgscoach Hannes Vitense als Protagonist.
Nach dem enttäuschenden Abschneiden bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 war das positive Abschneiden einiger deutscher Top-Schwimmer bei den jüngsten Europameisterschaften in Glasgow für viele eine große Überraschung. Acht Medaillen bei den Beckenwettbewerben und dreimal Edelmetall im Freiwasser lassen zarte Hoffnungen keimen, hin zu einer wieder erfolgreichen Zukunft des nationalen Schwimmsports unter Leitung von Chef-Bundestrainer Henning Lambertz. Bei genauerem Hinschauen fällt allerdings auf, dass die recht erfreuliche EM-Bilanz vornehmlich auf das Konto eines einzigen Vereins geht, nämlich der Neckarsulmer Sport-Union (NSU). Die Hälfte der Beckenmedaillen steuerten Annika Bruhn, Henning Mühlleitner und Fabian Schwingenschlögl bei, nur der jungen Celine Rieder blieb in Schottland aus der vierköpfigen NSU-Riege der Sprung aufs Podest versagt.
Allesamt sind sie Schützlinge des ehrgeizigen, in Hannover geborenen Erfolgscoachs Hannes Vitense (Jahrgang 1982), der nach einigen Jahren als Nachwuchs- und Leistungstrainer in Oldenburg ab 2005 seine ersten Meriten im Saarland gesammelt hatte, wo er zwischen 2008 und 2017 als allgemein hochgeschätzter Landestrainer an der Hermann-Neuberger-Sportschule in Saarbrücken gearbeitet hatte. Anfang 2018 war er nach Neckarsulm gewechselt, um gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Hirschmann an einem ambitionierten Projekt mitzuwirken, das in deutschen Landen bislang beispiellos ist. Denn in der baden-württembergischen Kleinstadt, abseits der Olympia-Stützpunkte des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV), ist offenbar Großes im Gange. Denn dank der finanziellen Unterstützung und Förderung durch eine Reihe prosperierter mittelständischer Unternehmen gibt es im Rahmen der NSU nun ein Profi-Schwimmteam. Diesem gehören derzeit neun Sportler an, darunter mit Annika Bruhn, Celine Rieder, Marlene Hüther und Henning Mühlleitner vier Athleten, die Hannes Vitense aus dem Saarland nach Neckarsulm gefolgt sind.
Positives Abschneiden bei der jüngsten EM
Über die Gründe für Vitenses Ortswechsel wurde viel spekuliert. Doch laut eigener Aussage spielte für ihn dabei die Familie die mit Abstand wichtigste Rolle. Vitense räumt aber auch ein, dass ihn daneben durchaus auch die sportliche, entwicklungsfähige Perspektive des Neckarsulmer Pilotprojekts gereizt hat, mit dem jungen Athleten die Möglichkeit eröffnet werden soll, sich neben der sportlichen auch eine Karriere nach der aktiven Zeit aufzubauen. Pekuniäre Zuwendungen, die den Schwimmern die volle Konzentration auf ihren Sport erlauben sollen, gehören natürlich dazu. Aber man hat keinesfalls vor, sich mit dicken Geldbündeln die deutsche Nationalmannschaft zusammenzukaufen, weil laut Vitense die Chemie, sprich das Zwischenmenschliche im Team, stimmen muss. Außerdem könne nur so das Ziel erreicht werden, das „maximal Erreichbare" aus jedem Sportler herauszukitzeln, um möglichst schnell an der nationalen und internationalen Spitze mitmischen zu können. Das Umfeld sei zudem sehr familiär, was Vitense als sehr inspirierend für seine Arbeit empfindet.
Für jedes Teammitglied wird eine individuelle Förderlösung gesucht, beispielsweise die Anstellung bei einem Unternehmen, das den Sportler aber für das Schwimmen komplett freistellt – eine ähnliche Praxis, wie sie von Bundespolizei oder Bundeswehr bekannt ist. Auch für Studierende oder Schulabsolventen dürfte Neckarsulm eine ideale Anlaufstation sein. Mit dem örtlichen Albert-Schweitzer-Gymnasium beispielsweise haben die Schwimm-Verantwortlichen einen perfekten Partner gefunden. Über die Höhe der Zuwendungen wird nicht gesprochen, „aber unseren Athleten geht es hier nicht schlecht", umschrieb es Vitense ganz vorsichtig.
Kein Wunder, dass bei der Schwimm-Abteilung der NSU immer mehr Anfragen interessierter Schwimmer eintrudeln. Spätestens seit Philip Heintz’ nach dem Rio-Desaster öffentlich geäußerter Kritik an der aus seiner Sicht völlig unzureichenden deutschen Sportförderung („Wer wird denn Vollprofi für 700 Euro im Monat?!") dürfte jedem einleuchten, dass man hierzulande neue Wege suchen muss, um Top-Athleten einen vernünftigen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Allerdings ist nach Vitenses Einschätzung der Neckarsulmer Profikader nicht beliebig erweiterbar, zwischen acht und zwölf Schwimmer sollten es idealerweise sein, weil man sich nur bei dieser Beschränkung voll und mit Aussicht auf maximalen Erfolg auf jeden einzelnen Sportler konzentrieren könne.
„Unseren Athleten geht es hier nicht schlecht"
Vitense möchte sein Augenmerk aber nicht auf einzelne Hoffnungsträger legen, sondern auf die Entwicklung eines gesamten starken Teams, weil von Hoffnungsträgern meist der schnelle Erfolg erwartet werde. Viel besser sei es, die Athleten des gesamten Kaders geduldig und dabei ganz gezielt aufzubauen. Manchmal brauche es halt seine Zeit, bis ein Schwimmer sein Potenzial voll ausschöpfen könne. Das beste Beispiel sei Annika Bruhn, die beim Gewinn der EM-Goldmedaille in der 4x200-Meter-Mixed-Freistil-Staffel erst im Alter von 25 Jahren als Schlussschwimmerin eine Fabelzeit hingelegt habe. Überhaupt sei Annika Bruhn mit ihrer Erfahrung ein ganz wichtiges Mitglied des Teams, von der die jungen Sportler wie Celine Rieder, die allgemein als großes Talent gehandelt wird, viel profitieren könnten. Diese Einschätzung teilt auch ihr Coach, auch wenn er einschränkend anmerkt, dass sie „noch viel dazulernen muss".
Auf Teamspirit hatte Vitense auch während seiner Tätigkeit im Saarland schon gesetzt. Im Rückblick kann er mit Recht auf den Aufbau einer zuletzt superstarken Mannschaft verweisen, wobei er sich besonders gern an die tolle Zusammenarbeit mit dem Marathon-Freischwimmer Andreas Waschburger erinnert, den er ebenso für die Teilnahme an den Olympischen Spielen fit gemacht hatte wie seine Schützlinge Christoph Fildebrandt und Annika Bruhn. Langfristig glaubt Vitense, dass die deutschen Schwimmer wieder an die großen Erfolge früherer Jahre anknüpfen können. Im internationalen Vergleich gebe es zwar noch einen gewissen „Aufholbedarf". Aus seiner Sicht mache es allerdings wenig Sinn, andere derzeit noch erfolgreichere Nationen einfach zu kopieren. Man habe nun einmal im DSV ein eigenes System, eine eigene Struktur, mit der man leben und aus der man einfach das möglichst Beste machen müsse.