Totgesagte leben bekanntlich länger. Das gilt besonders für die frühere Modesünde Leggings, die in der aktuellen Herbst-/Wintersaison dank innovativer Modelle ein farbenfrohes Revival feiert.
Sie ist gleichermaßen der meistgehasste und online der meistgeshoppte Modeartikel. Die Rede ist von der Leggings, die zuweilen auch Leggins oder Tights (abgeleitet von „tight" = eng) genannt wird. Die hohe Ablehnungsquote verdankt sie vor allem der Männerwelt. Weil die Herren der Schöpfung sie kontinuierlich in repräsentativen Umfragen auf Platz eins der Garderobestücke setzen, die sie an Frauen am wenigsten mögen ‒ auf den weiteren Plätzen folgen Ballerinas und Ugg-Boots. Auch ein nicht gerade kleiner Teil der Damenwelt würde sich niemals in die Beinkleider reinzwängen. Aber dennoch gibt es offensichtlich viele Ladys, die das strumpfartige, mit einem Gummizug am Bund fixierte und in der Regel bis zum Knöchel reichende Kleidungsstück aus tiefstem Herzen lieben. Das beweisen schon die jüngsten Verkaufszahlen aus dem Online-Handel, bei dem die Leggings sogar die Jeans hinter sich gelassen haben.
Seit den grellen Auswüchsen der 80er-Jahre hatten sie lange Zeit ein mega-schlechtes Image als Modesünde und wurden trotz eines kurzen Comebacks 2006/2007 fast ausnahmslos in allen Medien bei gelegentlichem Auftauchen gnadenlos zerpflückt. Egal ob es sich dabei um Stilkolumnen seriöser Zeitungen wie „Süddeutsche", „FAZ" oder „Zeit" oder um Artikel in renommierten Mode- beziehungsweise Frauen-Magazinen handelte. Selbst die brave „Brigitte" hatte im Frühjahr 2016, als Phoebe Philo die Leggings anlässlich der Céline-Fashion-Show erstmals wieder offiziell auf die internationale Mode-Bühne gehoben hatte, nichts anderes als eine schaudernde Gänsehaut empfunden und das Teil gleich in die Kategorie „Bitte nicht und niemals mehr" eingeordnet. Weil die Leggings „im Alltag bereits so durchgenudelt und schlecht kombiniert wurden, dass das Trauma zu tief sitzt, als dass eine modische Neuinterpretation möglich wäre."
Aber genau dieses Unterfangen haben renommierte Designer mit Tom Ford und Victoria Beckham an der Spitze für die Wintersaison 2018/2019 in Angriff genommen. Übrigens sehr überzeugend, wie selbst bekennende Leggings-Hasser eingestehen werden. Nur werden sich wohl die wenigsten potenziellen Kundinnen diese ebenso innovativen wie aus hochwertigen Materialien gearbeiteten Tights leisten können. Die Meinungsmacher in den Medien haben jedenfalls angesichts der neuen Leggings-Modelle eine komplette Kehrtwendung vollzogen und feiern sie nahezu unisono.
Leggings Jetzt ganz offiziell als Hose anerkannt
Und zudem wird plötzlich vom ewigen Credo früherer Jahre, dass Leggings eben keine Hosen sind, sondern bestenfalls eine Notlösung für Gammeltage oder Fitnessstudio, abgerückt. In einem Nebensatz wird meist darauf hingewiesen, dass zu Leggings nach wie vor möglichst längere, den Po überdeckende Oberteile getragen werden sollten. Dem widersprechen nicht selten die beigefügten Bilder der Models von den aktuellen Laufstegen oder von Promi- beziehungsweise bekannten Blogger-Damen nach dem Vorbild von Kim Kardashian und Co. Denn diese Damen zeigen ihr wohlgeformtes Hinterteil gerne ohne jegliche Verschleierung. Magazine wie „Stylight" zeigen sich verzückt: „War es früher mal tabu, den Schritt-Bereich der Hose unbedeckt zu lassen, so werden Leggings jetzt mit kurzen Tops getragen und der Hüftbereich sogar noch extra zur Schau gestellt!"
Nur wird dabei leider vergessen, dass Looks vom Catwalk oder Glamour-Umfeld nicht immer auf die Straße übertragen werden können. Für normale, stilbewusste Frauen kaum zur Nachahmung zu empfehlen. „Eine Leggins, die den Hintern präsentiert", so die „Süddeutsche Zeitung", „wirkt niemals süß. Höchstens sexy ‒ wenn man auf pinken Nagellack und Daniela Katzenberger steht. Ansonsten sieht ein freier Hintern in Leggins aus, als hätte man vergessen, einen Rock anzuziehen und wäre in Strumpfhose und bauchfreiem Shirt auf die Straße gejagt worden … Dieses öffentliche Quasi-Entblößen gewährt dann bei recht alltäglichen Bewegungen … unbeabsichtigt höchst intime Einblicke."
Die deutsche „Vogue" und eine ganze Reihe weiterer Fashion-Leader haben die Leggings sogar ganz offiziell unter die Hosen eingereiht, ohne dafür eine Erklärung mitzuliefern, denn eigentlich wären sie bei den Strümpfen als Alternative zur Strumpfhose viel besser aufgehoben. Noch 2006/2007 hatten Nylon-Spezialisten wie Wolford oder Fogal daher die fuß-, knopf-, reißverschluss- und taschenlosen Ersatz-Strumpfhosen groß in ihrem Sortiment mit Werbebotschaften wie „Stylingwunder Leggings" gepusht. Das hatte seinerzeit die Dpa mit dem Aufschrei „Das Grauen kehrt zurück" kommentiert. Nun sollen sie also Hosen sein, was angesichts des weiter anhaltenden Siegeszugs von Athleisure-Wear gar nicht so unlogisch sein mag.
Okay, in der aktuellen Mode ist inzwischen fast alles erlaubt, dennoch bleiben Loafer, Sneakers oder Ankle-Boots garantiert die beste Schuh-Wahl zur Leggings. Und noch auf eine weitere trendige Leggings-Variante, die auf den Laufstegen von Gucci, Fendi, Victoria Beckham oder Paco Rabanne zu sehen war, hat die „Instyle" kürzlich hingewiesen. Nämlich auf Leggings mit Steg, die durchaus auch von Pferdesportfreundinnen als Alternative zu Reiterhosen genutzt werden könnten. Ein Rausrutschen aus dem Stiefel dürfte dank dem Stegchen unmöglich sein.
Über Leggings-Styling-Tipps zu philosophieren, macht vergleichsweise wenig Sinn. Meistens wird empfohlen, die strumpfartigen Teile, die es in den Versionen low und high waist gibt, nur unter einem Rock oder einem längeren Kleid zu tragen (so beispielsweise die „Madame"). Andererseits wird diese Kombi, beispielsweise von der „Instyle", als absolut out deklariert und stattdessen wird einzig ein langes, weites Oberteil als Gegenpol zur engen unteren Silhouette gelten gelassen, egal ob es sich dabei um Oversize-Shirt, Longpullover, Tunika, Cardigan, Blazer oder Mantel handelt. Wer hingegen Leggings noch immer mit Jeansshorts tragen möchte, hat wirklich die Kontrolle über sein Leben verloren, um das berühmte Lagerfeld-Zitat bezüglich der Jogginghosen mal etwas abgewandelt aufzugreifen. Jedenfalls gilt besonders bei Leggings die Devise: Je hochwertiger das Material, desto besser. Baumwoll-Tights sind natürlich der Klassiker schlechthin. Am edelsten sind Exemplare aus feinstem Leder oder Wildleder.
Sehr beliebt sind aber auch Tights aus Denim („Jeggings" getauft) aus dehnfähigem Elastan, aus leicht glitzerndem Lurex, aus leuchtendem Lackleder oder mit Mesh-Einsatz.
Schon in der vergangenen Wintersaison hatten Labels wie Jeremy Scott oder Gucci noch ganz im Stil der 80er-Jahre gehaltene Tights präsentiert, während Brands wie Yeezy, Versace oder Vetements sportive Varianten vorgelegt hatten. Dass Leggings auch zeitgemäß-elegant daherkommen können, hatten damals schon Salvatore Ferragamo, Giambattista Valli oder Alexander Wang unter Beweis gestellt. Diesen Winter haben einige Designer noch einen drauf gesetzt. Vor allem Tom Ford, so etwas wie der neue unbestrittene König der Leggings, die gewissermaßen auch die in den letzten Jahren so angesagten Sock-Boots von der modischen Bühne verscheucht haben. Gegen die Exemplare von Tom Ford in knalligem Grün und Gelb, mit Metallic-Beschichtung, Pailletten-Glamour, Patchwork-Mustern oder Animal-Print sehen sogar die verwegenen Vorläufer aus den 80er-Jahren ziemlich alt aus.
Erst die Lycrafaser machte die bequeme Leggings möglich
Das genaue Gegenteil von Tom Fords Entwürfen sind die eher schlichten Kreationen von Victoria Beckham in zartem Jägergrün, toll präsentiert zusammen mit Kroko-Loafern und geschickt drapiertem XL-Mantel. Alexander Wang fährt zweigleisig: einmal sportiv mit weißem oder grauem Rippstrick, zum anderen elegant mit schwarzem Model samt Logo-Print. Saint Laurent hat sich für einen Hybriden zwischen Leggings und slim-fit geschnittenen Zigarettenhosen entschieden. Weitere Marken wie Sportmaxx, Burberry, Nobi Talai oder Chlosse sind ebenfalls auf den Trendzug aufgesprungen.
Die Geschichte des nach wie vor polarisierenden Beinkleids reicht wohl bis in die Frühzeit des Wilden Westens zurück. Die Wildledergamaschen nordamerikanischer Indianer und Indianerinnen gelten gemeinhin als Vorläufer der heutigen Leggings. Französische Fallensteller und die als Mountain Men bezeichneten und in den Rocky Mountains tätigen Bergarbeiter sollen sie von den amerikanischen Ureinwohnern übernommen haben. Es gibt jedoch auch Modehistoriker, die in den engen Kniebundhosen des späten 17. und 18. Jahrhunderts namens Culottes, die vor allem von den europäischen Adligen getragen wurden, die Tights-Urahnen vermuten.
Doch erst mit der Entdeckung der elastischen Lycra-Faser Mitte des 20. Jahrhunderts sollten Frauen das bequeme Kleidungsstück für sich entdecken. Berühmt ist ein Foto von Audrey Hepburn aus dem Jahr 1954. Die Schauspielerin posiert darauf in schwarzer Leggings für ihren Film „Sabrina". Sechs Jahre später ließ sich auch Marilyn Monroe in einer Tights in Kombination mit einem Strickpullover ablichten. Das berühmte Model Twiggy machte darin ebenso eine gute Figur wie Olivia Newton-John im Kultstreifen „Grease" 1978. Die 80er-Jahre machten die Leggings schließlich zur Uniform der Aerobic-Bewegung mit Jane Fonda als Aushängeschild und der Pop-Musik mit Madonna als Protagonistin. Ab den 90er-Jahren waren sie dann als Proletenlook in Verruf geraten, obwohl Kate Moss und keine geringere als Lady Diana damit häufig auf der Straße zu sehen waren.
So richtig verschwanden die Tights nie aus dem Straßenbild und erlebten Anfang der Nullerjahre ein kurzes Comeback. 2015 entdeckten dann Promi-Damen wie Gigi Hadid oder Kendall Jenner ihre Vorliebe für diese Beinkleider. Und dann wurden sie ab 2016 wieder nach und nach salonfähig für den Fashion-Himmel gemacht.