Reinhard Klimmt (76), ehemaliger Ministerpräsident des Saarlandes, ist Herausgeber eines Bildbandes, der ein bewegtes Jahrzehnt beleuchtet. „Minirock und Literbombe – Das Saarland in den 1960er-Jahren" wird rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse präsentiert.
Herr Klimmt, Ihr Bildband präsentiert Fotos der 60er-Jahre aus dem Saarland. Was fasziniert Sie an diesem Jahrzehnt?
Das ist eine Zeit, deren Veränderungen im Saarland – ja man kann fast sagen deren Verwandlungen – ich miterlebt, teilweise mitgestaltet habe. Das war ein Prozess, der am Ende ein in seinem Wesen verändertes Land zur Folge hatte.
Woran denken Sie dabei? Können Sie Beispiele nennen?
Es war eine Zeit, in der die CDU ungefährdet die Mehrheit im Landtag hatte. Aber eine Gesellschaft verändert sich auch unabhängig von politischen Mehrheiten. Diese Zeit war ökonomisch noch von Bergbau- und Stahlindustrie bestimmt, gleichzeitig gesellschaftlich stark katholisch geprägt, beispielsweise gab es noch die Konfessionsschulen. Die Kinder lernten nach Konfessionen getrennt. Das lockerte sich immer mehr. Am Ende der 60er stand die Gemeinschaftsschule. Diese Gesellschaft war zu Beginn des Jahrzehnts ausgesprochen prüde, aber am Ende gab’s den Minirock, danach die Hotpants – eine Veränderung der Gesellschaft zur Akzeptanz der Körperlichkeit. Oder im Musiksektor – der Jazz kommt auf, Jazzkneipen entstehen. Der Saarländische Rundfunk entwickelt sich und bringt, völlig revolutionär damals, Sendungen mit sogenannten Discjockeys und Moderatoren. Oder: Zu Beginn der 60er wird teilweise noch mit der Sense gemäht, dann mit dem Mähdrescher. Und zu Anfang der 60er hatten nur wenige einen Fernseher, am Ende ist das Fernsehen Bestandteil der Kultur.
Das Jahr 1968 ist eine berühmte Wegmarke in dem Jahrzehnt.
Ja, das spielt natürlich eine Rolle, wobei die Veränderung schon vorher begonnen hat. Die ersten Demonstrationen waren im Saarland schon 1963 – da ging es um die Fahrpreise.
Gab es da noch die Straßenbahn in Saarbrücken?
Da gab es noch die Straßenbahn, aber Mitte der 60er nicht mehr, da fuhren die Busse. Ende der 60er kam es zu großen Demonstrationen, den Sitzblockaden bei den Rote-Punkt-Aktionen für einen günstigeren Nahverkehr. Da war ich auch mitbeteiligt.
So etwas würde man sich heute auch wieder wünschen.
Ja (lacht). Wie man den Nahverkehr sozial, ökologisch und effektiv gestalten kann, das wird eine dauernde Aufgabe bleiben.
Die Studierenden der 60er waren ziemlich rege. Sie sind 1962 zum Studium nach Saarbrücken gekommen. Was tat sich denn an der Saar-Uni?
Die ersten Jahre waren eher ruhig, aber es gärte bereits im Untergrund. An der Universität kam es zu Diskussionen und Debatten zum Thema Notstandsgesetzgebung (Der Deutsche Bundestag beschloss am 30. Mai 1968 die sogenannten Notstandsgesetze, die bereits im Vorfeld zu mehrfachen und heftigen Studenten- und Bürgerprotesten führten. Die Notstandsgesetze sind bis heute in Kraft. Anm. d. Red.). Heftig waren die Auseinandersetzungen um das Hochschulgesetz mit Sit-ins und Vorlesungsstörungen, wie an den anderen Universitäten auch, wenngleich auf etwas harmloserem Niveau. Und eines der Highlights – das haben wir natürlich auch mit einem Foto erfasst – war diese bewusste Provokation mit Daniel Cohn-Bendit an der „Goldenen Bremm", der dort die Grenze überschreiten wollte. Der „Rote Daniel" war einer der führenden Köpfe der Studentenrevolution in Frankreich. Von einem Besuch beim SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Anm. d. Red.) in Frankfurt, wollte er – trotz Einreiseverbot – zurück nach Paris. Demonstrativ begleiteten wir ihn an den Grenzübergang „Goldene Bremm". Mit großem Polizeiaufgebot und Panzerwagen verhinderte die französische Staatsgewalt, wie erwartet, die Einreise. Dann ist er über die grüne Grenze. Hätte er auch gleich machen können, das Wichtige war die Aktion.
Sie haben bereits „Halbe fünf und ganze Kerle – Das Saarland in den 50er Jahren" vorgelegt. War von Anfang an eine Fortsetzung geplant?
Es stand offen. Wir haben gesagt, wenn die 50er entsprechende Resonanz findet, mache ich es gern. Dann hat der Verlag mich gefragt.
Was bitte ist eine „Literbombe"?
Haha! (amüsiert). Sie wussten wahrscheinlich auch nicht was die „Halbe fünf" ist, als Sie den Titel zum ersten Mal gehört haben.
Stimmt!
Die „Halbe fünf" war eine saarländische Spezialität, eine Zigarettenmarke einer saarländischen Zigarettenfirma. Im Saarland gab es auch viele Brauereien. Nico Becker von der St. Ingberter Becker-Brauerei hatte die Idee, Bier in Literflaschen zu verkaufen. Diese Literflasche (Export-)Bier hieß liebevoll die „Literbombe". Wenn das Saarland in jener Zeit unterscheidbar ist von allen Teilen der Republik, dann durch die Literbombe – die gab es nur hier.
Auf welche Fotos hatten Sie Zugriff?
Das Saarland ist an guten Fotografen reich gesegnet, das hat mit der Schule für Kunst und Handwerk zu tun – Otto Steinert war weltweit einer der besten Fotografen. Zu den Steinert-Schülern gehörte auch der Fotograf Joachim Lischke, der beim LPM (Landesinstitut für Pädagogik und Medien, Anm. d. Red.), damals hieß es wahrscheinlich anders, fest angestellt war. Mehr als ein Viertel der Fotografien in dem Band stammt von ihm. Von Monika von Boch stammen vier oder fünf Aufnahmen. Ferdi Hartung ist bekannt für seine Sportfotografien, der Band zeigt jedoch nicht nur seine Sportaufnahmen. Zudem finden sich viele Bilder weiterer Fotografen. Ich habe viele tausend Fotos und Negative im LPM, im Landes- und Stadtarchiv, in den Archiven in St. Ingbert und St. Wendel und imk Saarlandmuseum gesichtet. In dem Band finden sich viele Fotos, die noch nie veröffentlicht wurden.
Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt?
Was ist typisch für die Zeit? Für das Saarland? Was hat ästhetische Qualität? Zeittypisch ist beispielsweise ein Foto von einem Geldbriefträger.
Den gab es noch in den 60ern?
Ja! Es gab auch noch Lohntüten.
Welche thematische Gliederung haben Sie gefunden?
Der Band ist chronologisch in drei Blöcken aufgebaut –
der Anfang bis 63/64, die Mitte bis 67 und die Zeit ab 68 bildet den Übergang zu den 70ern.
Und der Text …
… stammt von mir. Jedem Kapitel ist eine Einleitung vorangestellt, die Interpretation der Bilder wird vorweg geliefert. Die Bildunterschriften geben nur die nötigsten Informationen.
Welches Foto würden Sie als Ihr Lieblingsbild bezeichnen?
Eigentlich sind alles großartige Bilder. Tja … doch, ich weiß es. Das ist ein Bild vom Besuch Ludwig Erhardts, der im Wahlkampf auf einer Betriebsversammlung bei V & B in Mettlach spricht. Die Belegschaft wurde zusammengetrommelt, geradezu in Etagen gestapelt, damit der Wirtschaftsminister sein Publikum bekommt. Da war mir klar: Das will ich auf jeden Fall haben. Oder bei dem Foto mit den Studierenden im „Hades" (einstige Kneipe in der Paul-Marien-Straße in Saarbrücken, Anm. d. Red.), wurde mir warm ums Herz. Es zeigt Anfang der 60er eine selbstbewusste, das eigene Umfeld schaffende Generation. Das bin auch ich, mein Lebensgefühl der damaligen Zeit ist da wiedergegeben.
Warum dieses Foto auf dem Cover?
Ja, das ist immerhin eine saarländische Spezialität mit der Nähe zu Frankreich: Ein Citroën 2CV – außerdem fahre ich immer noch einen 2CV. Und: Freundlich lächelnde Kinder, das ist ein Anreiz für den Käufer (lacht), da sind Kinder immer gut, muss ich sagen.
Von der Idee bis zum Buch? Wie viel Zeit haben Sie investiert?
Zwei Jahre. Also ich habe nicht nur daran gearbeitet.
Sind Sie am Emons-Stand der Frankfurter Buchmesse an den Publikumstagen anzutreffen?
Am Emons Verlag ja. Aber noch eher auf der Antiquariatsmesse, wo ich einen eigenen Stand „Der Büchergärtner" habe und dieses Buch und weitere Bücher von mir präsentiere. Dort kann man auch mit mir ins Gespräch kommen.