Nach der Entführung einer Ordensschwester ist nichts mehr so wie es war. Das lange Bangen und das große Hoffen der Nonnen in einer kleinen Missionsstation in Mali.
Über dem provisorischen Altar im Nebenraum hängt ein Bild. Es zeigt eine lächelnde Frau. „Gloria, komm’ bald wieder. Wir warten auf Dich. Wir beten jeden Tag für Dich." Janet Aguirre, Franziskaner-Missionsschwester von Maria Hilf, zeigt auf das Foto: „Jetzt ist sie schon seit über einem Jahr verschwunden."
Die Ordensfrau lebt seit 14 Jahren in der Missionsstation im malischen Koulikoro. Ihr rechtes Handgelenk ziert ein buntes Perlenarmband. Ein Andenken an ihr Heimatland Kolumbien. Sie ist zuversichtlich, dass Gloria zurückkommt. „Sie lebt", bringt es ihre Mitschwester Rosa Rodriguez auf den Punkt. „Vor wenigen Wochen erst haben sie ein verwackeltes Video der Geiselnehmer erhalten, in dem sich die entführte Ordensfrau über eine schwerkranke französische Nonne beugt und ihr Wasser zu trinken gibt." Schwester Rosa sieht es auf ihrem Smartphone immer und immer wieder an. Sie zeigt auf das Display, als das Gesicht ihrer Landsmännin auftaucht. Gloria trägt einen Schleier. Auf ihrem Schoß liegt eine weitere Frau mit bedecktem Haar: eine schwerkranke französische Nonne, um die sie sich kümmert. Außer dieser Filmsequenz haben die beiden Kolumbianerinnen keine Neuigkeiten über den Verbleib ihrer Mitschwester.
Fünf weitere Ordensfrauen wurden entführt
Februar 2017 im Grenzgebiet zu Burkina Faso: Drei bewaffnete und vermummte Männer dringen in die Missionsstation von Karangasso ein und nehmen die heute 57-Jährige Franziskanerschwester mit. Vorher hatte sie sich als Verantwortliche der Missionsstation schützend vor ihre Mitschwestern gestellt und sich freiwillig als Geisel angeboten. Schwester Rosa musste mitansehen, wie Gloria verschleppt wurde. Die Angreifer flohen im Ambulanzwagen der Mission. „Das Auto haben sie auch mitgenommen", ergänzt Rosa fast tonlos. Insgesamt wurden mit Schwester Gloria noch fünf weitere Ordensfrauen unterschiedlicher Nationalitäten entführt. Lebenszeichen gibt es kaum. „Sie werden im Norden des Landes vermutet, dort, in den unwirtlichen Rückzugsgebieten der Dschihadisten", berichtet die 71-Jährige.
Im Salon der Missionsstation von Koulikoro hängen viele Fotos. Erinnerungen an die, die hier waren und Zeugnisse von denen, die bleiben. Wie Schwester Janet. Bei einer Tasse starkem kolumbianischem Café erzählt sie von ihrem Einsatz in einem der ärmsten Länder der Welt. Ihre Augen funkeln, wenn sie über ihr Leben als Missionarin spricht. Es sei die Erfüllung eines Traumes. In erster Linie widmen sich die Schwestern den lokalen Frauen und Mädchen. „Frauen haben in dieser Gesellschaft keinen großen Stellenwert. Genau da wollen wir ansetzen", sagt sie unumwunden. Und gerade deshalb sei Frauen- und Mädchenförderung so wichtig. „Denn wenn die Frauen etwas Neues lernen, zum Beispiel das Kochen schmackhafter Gerichte oder das Nähen eines Hemdes, sind die Ehemänner durchaus stolz auf sie. Sie erzählen das dann auch gerne im Dorf herum."
Damit sei das Engagement der Schwestern durchaus gewollt und anerkannt. Es gibt Alphabetisierungskurse, denn die meisten Frauen können weder lesen noch schreiben. Bildung sei immer noch der wichtigste Stützpfeiler im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Das Erlernen eines Berufes gehöre auch dazu: als Köchin, im Hotelgewerbe, als Schneiderin oder als Friseurin.
Das Ausbildungszentrum liegt auf dem Gelände der nahen Kirche Saint Pierre, die zur Diözese von Bamako gehört. Der malischen Hauptstadt also, die rund zwei Autostunden entfernt liegt. „Unsere Ausbildungen stehen für alle Religionsgruppen offen", ergänzt Schwester Janet. „Wir wollen den Frauen eine Zukunft geben, egal, welchen Glauben sie haben." Die Kurse dauern insgesamt drei Jahre und werden bei erfolgreichem Abschluss mit einem staatlichen Diplom belohnt. „Die Urkunde vom Ministerium zählt in der Bevölkerung viel. Wer diese in Händen halten kann, findet auch eine Arbeit." Damit werden die Frauen selbstständiger und natürlich auch selbstbewusst. „Und sie können mit ihrem Einkommen zum Familienunterhalt beitragen. Das gefällt auch den Männern."
Kampf gegen Beschneidung von Mädchen
Doch im Frauenzentrum geht es nicht nur ums Geldverdienen. Es geht um noch viel mehr, denn auch brisante Themen werden angesprochen. „In der Region Koulikoro häufen sich weibliche Genitalverstümmelungen. Wir diskutieren darüber und laden dazu auch die Männer ein." Die Folgen, wie heftige Schmerzen, Blutungen, die bis zum Tod der jungen Mädchen führen können, und langfristige Gesundheitsprobleme, werden klar und ohne Schnörkelei benannt. „Die Männer sind oft nachhaltig beeindruckt und verständnisvoll und wollen die Beschneidung ihrer Töchter nicht mehr", erklärt die 43-Jährige.
Doch das Hauptproblem seien die Frauen, die immer noch an dieser uralten Tradition festhalten. „Das sind die Groß- und Urgroßmütter, die Beschneiderinnen ins Dorf holen und den Mädchen weismachen, dass die bevorstehende Zeremonie der schönste Tag ihres Lebens wird."
Und die betroffenen Teenager freuen sich sehr darauf, auf diesen Tag, an dem sie ein schönes Kleid tragen dürfen, Geschenke erhalten und an dem ganz offiziell ihr Übergang vom Kind zur Frau stattfindet. Weiter wagen sich die Nonnen an Themen wie Sexualerziehung und klären über Geschlechtskrankheiten auf. Auch in der Schwangerenberatung sind sie aktiv. „Die meisten Mädchen bekommen ihr erstes Kind im Alter zwischen 15 und 16 Jahren. Das malische Gesetz lässt zu, dass junge Frauen ab 15 Jahren heiraten dürfen."
Insgesamt gibt es im Förderzentrum 22 Lehrerinnen und Lehrer, die sich neben der Ausbildung auch diesen oftmals sehr heiklen Themen widmen. Und für die Teilnehmerinnen ist der soziale Austausch mit Andersgläubigen eine große Erfahrung. „Wir leben Ökumene im Zentrum, auch wenn wir Katechismus-Unterricht geben", betont Schwester Janet. 130 bis 150 Frauen nehmen regelmäßig an den Schulungen teil. „Sie kommen aus der ganzen Region und wissen, dass wir nur das Beste für sie wollen. Unser erklärtes Ziel ist es, ihre Lebensbedingungen zu verbessern."
Und die Schwestern selbst? Wie gehen sie mit ihrer Angst um, in einem Land zu leben, wo Entführungen mittlerweile an der Tagesordnung sind? Schwester Rosa vergleicht die Situation mit ihrer Heimat. Sie sei in einer Region aufgewachsen, in der es auch Rebellenbewegungen gab. Fremd sei ihr daher der Zustand, vorsichtig zu sein, nicht. „Wir passen sehr auf uns auf!", lacht sie, „Früher bin ich ganz allein in die entlegensten Dörfer gewandert, heute mache ich das nicht mehr. Aber ich fürchte mich nicht. Denn ich vertraue auf Gott."
Das beteuert auch ihre ältere Mitschwester. Obwohl sie mit der Entführten zwölf Jahre in der Mission von Karangasso zusammenarbeitete. Die Erinnerungen an diese Zeit sind immer noch allgegenwärtig. Heute gibt es die winzige Missionsstation an der Grenze zu Burkina Faso nicht mehr. Nach der Geiselnahme wurde sie geschlossen. „Wenn ich dort geblieben wäre, würde die Angst mich ständig begleiten", gibt Rosa zu. „Wir waren immer ein offenes Haus, jeder konnte zu uns kommen, mit seinen Freuden, Nöten und Sorgen." Nicht einmal Wachpersonal hatten sie gehabt.
Noch heute kann es Rosa kaum fassen, was damals passierte. Trost finden beide Schwestern in dem kleinen Raum nebenan, wo Glorias Charisma auf wundersame Weise spürbar ist. Hier ist sie ihnen ganz nah. Hoffen, Bangen, Warten – jeden Tag. Das kann noch lange anhalten.
Die Verhandlungen zur Freilassung der Schwester laufen.