Sie können süß, aber wollen das keinesfalls zu sehr sein: Bei „Jubel Patisserie" kommen feine saisonale Zutaten in und auf die essbaren Kunstwerke. Früchte, Gemüse und Kräuter setzen Akzente und erfreuen die Gäste im Café im Bötzow-Kiez.
Jauchzet! Frohlocket! Unwillkürlich habe ich einen Ohrwurm, wenn ich das Wort „Jubel" höre. Es vermischt sich in meinem Kopf, was nicht eigentlich zusammengehört, aber doch zusammenpasst: Der Name der kleinen, feinen Patisserie in der Hufelandstraße mit der Kantate aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Die „große, lebhaft geäußerte Freude", die „Jubel" bedeutet und auf die sich die Inhaberinnen Lucie Friedrich und Kai Michels mit ihrer Namensgebung beziehen, bricht beim Besuch des Patisserie-Cafés zweifellos aus. 15 Sorten Törtchen lagern auf goldenen Miniatur-Pappen in der großzügigen kubischen Vitrine. Sie werden „nur wenn es auch dem Geschmack dient" verziert und auf Etageren und Platten exakt ausgerichtet präsentiert. Kurzum: Wir haben es mit Kunstwerken in post-bauhausiger Galerie-Umgebung zu tun. Allerdings hat die „Galerie Jubel" einen unschlagbaren Vorteil: Jedes Objekt aus Mürbteig, Cremes, Früchten, Kräutern und Gemüsen ist ess- und bezahlbar. Es kann und soll zügig vernascht werden.
Viel Planung und Logistik sind nötig
So wie das Zwetschgentörtchen, auf dem so einige Früchte aus der üppigen Ernte im Garten von Lucie Friedrichs Mutter Eingang fanden. Auf dem zarten „Keks"-Streifen, wie der italienische Süßschnabel-Fotograf die Mürbteig-Basis bezeichnet, lagern ein Pflaumenragout, weiße Schokomousse, Karamellgel, Pflaumengel, Salzcrumble und glasierte Zwetschgenstreifen. Was für uns einfach wie ein feines Törtchen schmeckt, in dem die Nuancen vom Lorbeer-Hauch in der Schokomousse bis zum austarierten Zusammenspiel von Süße, Salznote und Fruchtigkeit harmonieren, vereint einiges an Logistik in sich. Entsteinen, Einwecken und Mus-Kochen sind erste Arbeitsschritte, die einen Eimer Zwetschgen in einen Törtchen-Bestandteil verwandeln. Parallel zum Früchtesegen denkt sich Konditormeisterin Kai Michels ein Rezept aus, nach dem die weiteren Arbeitsschritte detailliert zu planen sind. „Sind keine Mürbböden mehr da, müssen wir einen Tag vorher backen und sie ruhen lassen, bevor wir sie ausstechen", erzählt Friedrich. Jetzt müssen Gele, Fruchtragout und Crumble bereitstehen, damit keine der Zutaten zu weich, fest oder zäh sind. Das Fenster für die Zubereitung ist klein, um die kulinarischen Kunstwerke zum richtigen Zeitpunkt in die Vitrinen und an die Törtchen-Liebhaber zu bringen.
Mit „Einfach mal einen Kuchen backen" und Café-Eröffnungsromantik hat die Arbeit bei „Jubel" wenig zu tun. Wie viel Planung und Logistik nötig sind, bis ein elegantes Passionsfruchttörtchen oder eine busige Schokokuppel mit Himbeerspitze in der Auslage landen, durfte schon so manche Praktikantin erleben, die vom eigenen Café träumte. Und gleich wieder daraus aufwachte. „Wir haben hier selbst gelernt, anders zu arbeiten", erzählt Lucie Friedrich, die gemeinsam mit Kai Michels im Restaurant „Rutz" gearbeitet hatte. Michels war dort Chef-Patissière, Friedrich stellvertretende Restaurantleiterin. „Bei uns geht keine Patisserie als Dessert sofort heraus." Themen wie Oxidation oder das Weichwerden von Böden waren auf einmal Themen, die so im Restaurant nicht auftauchten. Lucie Friedrich als gelernte Hotelfachfrau ist eher die „theoretischere" Kunsthandwerkerin im Team. Klassiker wie Cheesecake und Carotcake kann die 36-Jährige sehr wohl backen: „Ich weiß, wie’s gut schmeckt, aber ich kann’s nicht bis ins letzte Detail selbst machen." Deshalb gibt es neben Kai Michels eine weitere Konditorin, eine Köchin und eine Azubine im Team. Vor mehr als vier Jahren war keineswegs klar, dass Michels und Friedrich trotz der gemeinsamen Arbeitserfahrung ein Restaurant gemeinsam gründen würden. „Wir waren damals nicht miteinander befreundet und haben uns erst mal sehr lange getroffen und miteinander gesprochen", erzählt Lucie Friedrich. Was sich herauskristallisierte, passte: „Wir machen genau das, was wir können, und das ist süß."
„Wir lieben Butter und Zucker", bekennt Lucie Friedrich lachend. Doch Mengen und Verhältnisse werden sehr genau durchdacht und gewichtet – es kommt eher weniger als mehr Zucker in Teige, Cremes und Gelees. Das erfreuliche Ergebnis: Die Törtchen schmecken keinesfalls „gesund" oder unsüß. Vielmehr setzt „Jubel" auf die Aromen von Früchten, aber auch von Kräutern und Gemüsen. Sicher ist es von Vorteil, dass Kai Michels gelernte Köchin ist und den Umgang mit in der Patisserie unüblicheren Zutaten aus dem Effeff beherrscht. Das Apfel-Sellerie-Törtchen ist so ein Exemplar, das Säure, Frucht und dezenten Tiefgang von Knollen- und Staudengemüse in sich vereint. In dem hochglanzgelackten „Pilz" von Knollenselleriemousse verbirgt sich ein mit Apfelessig verfeinertes Apfelragout. Staudensellerie-Stückchen sind die fein-bissige Dekoration. „Das ist Pompeji, nach dem Vulkanausbruch", bemerkt der Fotograf angesichts der träge aus dem Innenleben herausfließenden Fruchtmasse. Die geringe Süße gibt Früchten und Gemüse Raum zum Wirken – das Apfeltörtchen ist eindeutig unser frühherbstlicher Favorit auf dem Probierteller.
Eher weniger als mehr Zucker wird verarbeitet
Letztlich ist ohnehin alles Geschmackssache. Lucie Friedrich weiß, was die Kunden lieben, bei wem Abwechslung und Überraschung, geliebte Wohlfühl-Klassiker wie ein zitronig-fester New York Cheesecake mit einem Extratupfer Zitronengel oder Substanzielleres wie ein Ziegenfrischkäse-Törtchen mit Feigen auf Mohnboden gefragt sind. Ein Haselnusstörtchen mit Mascarpone, Nougat-Crunch-Boden und einem „schön mit Butter gerührten" Cassis-Gel-Innenleben ist so eine wuchtigere Komposition. Ein weißes Kokostörtchen mit Limettenkern scheint dagegen sanfter und frischer daherzuschweben. „Das Haselnuss-Mascarpone-Törtchen fand ich großartig", urteilt der Fotograf. „Aber ich kann nicht zu viel davon essen." Beim Haselnuss-Mascarpone-Bömbchen ebenso wie beim Ziegenfrischkäse-Feigen-Taler schmecken die Böden allein schon „volumiger". Mir gefällt der Kontrast von schwarzem, vollmundigem Mohn und dem in gesundem Ausmaß „zickigen" Frischkäse, während mir an diesem Tag das Kokos-Törtchen zu harmonisch ist. „Das fand ein Kunde neulich auch ‚viel zu lasch‘", berichtet Lucie Friedrich. Ihm wurde mit der vollmundigen Haselnuss geholfen, „und das war für ihn dann super." Das Schöne daran: Trifft eine der saisonalen Kreationen Vorstellung und Tagesgeschmack nicht so genau, kann sofort etwas anderes probiert werden. Für 2,50 bis 4,50 Euro pro Törtchen ist der „Jubel"-Besuch ein geldbeutelkompatibles Vergnügen. Fürs „Konditern" im heimischen Umfeld werden die Törtchen in hübsche, braune Pappschachteln verpackt.
„Mögt ihr denn selbst noch Törtchen, wenn ihr euch den ganzen Tag damit beschäftigt?", will ich wissen. „Ja klar!", antwortet Lucie Friedrich wie aus der Pistole geschossen. Törtchen mit Ziegenkäse, mit Wassermelone oder mit Zitrone und Shiso gingen immer: „Das könnte ich jeden Tag essen." Manche Törtchen sind neue Kreationen, auf die Friedrich und Michels selbst nicht bevorzugt gekommen wären – ein veganes Tartelette mit Cashew, Wildheidelbeere und Lavendel zum Beispiel. „Unsere Mädels wollten das mit einem veganen Törtchen jetzt mal in Angriff nehmen." Die Nachfrage im Bötzow-Kiez ist da. Die Kundschaft lässt es die „Jubel"-Frauen gern wissen, was sie sich wünscht. „Wir haben unheimlich viele Stammgäste, die gezielt zu uns kommen", erzählt Friedrich. „Kai und ich haben von Anfang an abwechselnd immer hinterm Tresen gestanden. Unsere Kunden kennen uns auch." Im September 2014 eröffnete „Jubel" und wuchs seither langsam und gesund. „Ich habe noch nie eine schlechte Nacht wegen der Rechnungen gehabt", sagt Friedrich. Wahrscheinlich, weil die Inhaberinnen sich ebenso genau mit ihrem Konzept wie mit Patisserie-Kunst und Handwerk auseinandersetzen und ihrem süßen Geschäftsmodell treu bleiben: „Wir sind froh, dass wir nie eingeknickt sind und Sandwiches oder Mittagessen angeboten haben." Nur eines haben sie unlängst übersehen: „Unseren vierten Geburtstag haben wir total vergessen. Aber zum fünften feiern wir eine voll geile Party!"