Archäologie – eine verstaubte Wissenschaft? Die Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland" im Berliner Martin-Gropius-Bau macht deutlich, dass jahrhundertealte Objekte Entwicklungen erklären können, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. Dafür stehen den Wissenschaftlern Methoden zur Verfügung, die einen ganz neuen Blickwinkel auf die Ereignisse der Vergangenheit erlauben.
Wenige Treppenstufen sind es nur hinab in den Lichthof des Martin-Gropius-Baus, doch der kurze Gang wirkt wie eine Zeitmaschine. Auf einmal wähnt man sich in einer anderen Zeit. Mittendrin im Köln der Römerzeit, genauer: im Hafen der schon damals bedeutsamen Rheinmetropole. Beim Bau der Kölner U-Bahn waren vor einigen Jahren die Mauern freigelegt worden, mit denen die Römer den Hafen gegen die Germanen absicherten: eine meterhohe Spundwand aus fast 2.000 Jahre alten Eichenbohlen. Entdeckt wurden damals auch Tausende Scherben aus dem einstigen Hafenbecken, die Reste von Amphoren, die belegen, wie global am Rhein auch schon im Jahr 90 nach Christus gedacht wurde. Die Römer schafften Waren aus aller Welt heran, so wie sie selbst aus aller Herren Länder nach Köln gekommen waren. „Alle Kölner waren damals Zugereiste", sagt Matthias Wemhoff, der Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin.
Das ist die Kernaussage der Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland", die derzeit im Martin-Gropius-Bau gezeigt wird und zu deren spektakulärsten Exponaten eben jener alte römische Hafen gehört: die Bewegung des Menschen als verbindendes Grundprinzip der Geschichte. Zu allen Zeiten sind Menschen mobil gewesen – sei es auf der Flucht, als Pilger, Handwerker oder Kaufleute. Sie haben Waren und Ideen gehandelt und sich untereinander ausgetauscht, auf friedliche wie auf kriegerische Weise, und dadurch unsere Gesellschaft erst zu der gemacht, die sie heute ist. Wemhoff hat die Ausstellung konzipiert und kann sich einen Seitenhieb in Richtung Horst Seehofer nicht verkneifen. Migration sei nicht die Mutter aller Probleme, wie es der Bundesinnenminister behauptet hatte, sagt er. „Es ist vielmehr der Beginn aller Entwicklung."
„Migration ist der Beginn aller Entwicklung"
Man kann die Ausstellung durchaus als Leistungsschau der deutschen Archäologie sehen. Immerhin versammelt sie auf 1.600 Quadratmeter Fläche die spektakulärsten Funde und Forschungsergebnisse der vergangenen 20 Jahre. 70 Leihgeber aus ganz Deutschland haben ihre Schatzkammern geöffnet und unterstützen die Ausstellung mit weit über 1.000 Exponaten. Ihre Herkunft reicht von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert.
Und was für Stücke das sind: Da ist die 35.000 Jahre alte Venus vom Hohle Fels (Baden-Württemberg), die früheste figürliche Skulptur der Menschheit. Oder der Schöninger Speer aus Niedersachsen, unglaubliche 300.000 Jahre alt und damit die älteste vollständig erhaltene Jagdwaffe der Welt. Das älteste Rad der Welt wurde am Bodensee entdeckt. Zu den herausragenden Exponaten zählt sicher auch die bronzezeitliche Himmelscheibe von Nebra (Sachsen-Anhalt) mit der weltweit ältesten bisher bekannten konkreten Darstellung des Kosmos. Sie wird noch bis einschließlich 5. November im Original in der Ausstellung zu sehen sein und danach durch eine hochwertige Kopie ersetzt. Vom 7. November bis 17. Dezember wird dafür als weiterer spektakulärer Fund der Pferdekopf aus Waldgirmes in Hessen gezeigt, der einst zu einem bronzenen römischen Reiterdenkmal gehörte.
Die Qualität der Exponate wäre schon Grund genug, sich die Ausstellung anzuschauen. Es ist jedoch vor allem die Art der Präsentation und die Aussage, die sich dahinter verbirgt, welche die Schau so bemerkenswert machen. Die Ausstellung ist entgegen üblicher Gepflogenheiten nicht chronologisch aufgebaut. Stattdessen ist sie nach vier Themen aufgeteilt: Mobilität, Konflikt (bis zur Ausgrenzung „entarteter Kunst" durch die Nazis), Austausch und Innovation. Zwar gehe dadurch die „Unmittelbarkeit des Objekts" ein wenig verloren, so Wemhoff. Doch dafür könne man jedes Ausstellungsobjekt besser einordnen und kategorisieren und seinen tieferen Sinn begreifen. „Wir wollen aufzeigen, dass die Archäologie zu den aktuellen Fragen der Gesellschaft einen Beitrag leisten kann, indem sie uns zeigt, was in anderen Epochen der Menschheitsgeschichte passiert ist", erklärt Matthias Wemhoff. Es geht also nicht darum, die Geschichte der deutschen Archäologie zu erzählen, sondern mithilfe der Archäologie die Geschichte der Welt. Oder wie es Christina Haak ausdrückt, stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin: „Unser Ziel ist es, mittels jahrhundertealter Objekte Phänomene darzustellen, die unsere Gesellschaft bis heute prägen."
Archäologie habe in der heutigen Gesellschaft auch einen kulturpolitischen Auftrag, sagt Michael Rind, der Vorsitzende des Verbands der Landesarchäologen (VLA). Dabei hat sich in den vergangenen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland mit seinen europäischen Nachbarn ein gemeinsames kulturelles Erbe teilt. Früher habe die Archäologie einen eher nationalistischen Ansatz verfolgt, sagt Rind: Die europäischen Mächte hätten sich ein Wettrennen um die besten Stücke geliefert. Es ging um das spezifisch deutsche, französische oder britische Erbe; betont wurden Unterschiede statt Gemeinsamkeiten.
Im Europäischen Kulturerbe-Jahr 2018 macht die Berliner Ausstellung nun aber deutlich, dass schon vor vielen Tausend Jahren die Grundlagen eines gemeinsamen Europas gelegt wurden. „Man darf die Archäologie nicht nur als ein nationales Erbe betrachten, sondern muss das in einem viel größeren Rahmen sehen. Es ist wichtig, dass wir begreifen, dass wir eigentlich ständig in Prozessen stehen, die nur europaweit zu verstehen sind", sagt Matthias Wemhoff.
Doch die Archäologie kann sogar noch mehr, nämlich den grenzüberschreitenden Austausch nicht nur beschreiben, sondern sogar aktiv initiieren. Als die Politiker noch darüber stritten, wie man während des Bürgerkriegs in Syrien agieren sollte, wurde auf der Ebene der Wissenschaft schon längst zusammengearbeitet, um gemeinsam Kulturschätze wie die Statuen von Palmyra zu retten. Der frühere Außenminister und jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sei sich dessen sehr bewusst gewesen, berichtet Michael Rind, und habe die Archäologie genutzt, um einen internationalen Dialog zu erreichen. „Das hat der Archäologie hierzulande einen ganz anderen Stellenwert gegeben", sagt Rind.
Luftbilder, Laser, Magnettechnik – das ist moderne Archäologie
Auch wenn sich die Archäologie mit der Vergangenheit beschäftigt, ist sie doch höchst lebendig. „Es bleibt eine wichtige Wissenschaft", meint Matthias Wemhoff. Es ist auch mitnichten so, dass bereits alles entdeckt sei: Durch die intensive Bautätigkeit in Deutschland hat die Zahl der Ausgrabungen in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen. „Wir leben in einer Zeit, in der wir – im wahrsten Sinne des Wortes – sehr stark unser archäologisches Erbe anbaggern", sagt Wemhoff. Dabei gibt es zwischen den jeweiligen Fachämtern in den einzelnen Bundesländern zum Teil gravierende Unterschiede, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Kulturhoheit laut Grundgesetz bei den Ländern liegt und diese ihre Aufgaben im Bereich der Archäologie unterschiedlich interpretieren.
Dabei steht den Wissenschaftlern eine ganze Palette neuer Methoden zur Verfügung, die bis vor einigen Jahren noch gänzlich unbekannt waren. Die Luftbildarchäologie zum Beispiel, mit deren Hilfe man das Ringheiligtum Pömmelte in Sachsen-Anhalt entdecken konnte, das schon jetzt als deutsches Stonehenge gilt. Auch Laserscanning und Magnetprospektion sind relativ neue Verfahren, die es erlauben, sehr genaue Aussagen zu treffen, noch bevor überhaupt gegraben wird. Dabei wird die Struktur der Erdoberfläche erfasst, was insbesondere in ausgedehnten Waldgebieten, in denen Ausgrabungen bislang nur vereinzelt stattfanden, ganz neue Möglichkeiten eröffnet. In Ostwestfalen wurde auf diese Weise kürzlich ein neues Römerlager entdeckt. Michael Rind, der nicht nur VLA-Vorsitzender ist, sondern auch Landesarchäologe in Westfalen, will diese Technik künftig verstärkt einsetzen und baut in seinem Amt deshalb gerade eine eigene Abteilung auf.
Ein relativ neuer Teilbereich ist die Schlachtfeldarchäologie. Erst durch die
Verwendung moderner Geosysteme ist es möglich geworden, den Schlachtverlauf genau zu rekonstruieren. In der Ausstellung „Bewegte Zeiten" erfährt man zum Beispiel von Europas
ältestem Schlachtfeld im Tollensetal (Mecklenburg-Vorpommern). Dabei geht es jedoch nicht nur um militärhistorische Aspekte. Mit der Schlachtfeldarchäologie geht auch eine Entwicklung einher, sich vermehrt auch mit dem Schicksal der einfachen Leute zu beschäftigen, die damals wie heute den Großteil des Heeres stellten. „Es geht nicht mehr nur um Preziosen, um die herausragenden Stücke", sagt Michael Rind. Auch Matthias Wemhoff meint: „Die moderne Archäologie ist längst davon abgekommen, nur das Fürstengrab finden zu wollen." Vielmehr gehe es darum, Geschichten zu erzählen, die noch heute relevant sind. „Und da lehren uns die kleinen Leute ja oft viel mehr als das Leben der Herrscher", so Wemhoff.