Es sind nur vier Buchstaben, und trotzdem kommen sie vielen Menschen schwer über die Lippen. Wie wir lernen können, Nein zu sagen, und warum klare Grenzen wichtig sind.
Der Schreibtisch quillt schon über, und trotzdem wartet der Chef mit einem neuen Großprojekt auf. Eigentlich bräuchte man jetzt Wochenende, um sich auszuruhen, aber da haben schon Freunde gefragt, ob man Kisten schleppen hilft, und für die Schulaufführung der Kinder werden Eltern benötigt, die Kuchen backen. Situationen wie diese kennt jeder, und viele Menschen tun sich schwer damit, dann ein Nein auszusprechen und klare Grenzen zu ziehen.
Wer nicht lernt, Nein zu sagen, kann früher oder später mit ganz unterschiedlichen Problemen konfrontiert werden. Häufig haben Menschen das Gefühl, dass sie ausgenutzt werden, von der Meinung der anderen abhängig oder völlig überlastet sind. Warum aber fällt vielen Menschen das Nein-Sagen so schwer? Wer Nein sagt, setzt Grenzen und übt dadurch Macht aus. Insbesondere dann, wenn Menschen Angst vor Konflikten oder Zurückweisung haben, trauen sie sich nicht, ein Nein auszusprechen. Oft spielt auch das Selbstbild eine Rolle. Wer sich selbst als allzeit hilfsbereit und großzügig ansieht und von sich erwartet, entsprechend zu reagieren, tut sich schwer mit Absagen. In vielen Fällen ist auch die Angst ein Thema, dann kein guter Freund oder Kollege mehr zu sein, sich egoistisch zu verhalten oder nicht fähig und kompetent genug zu sein, bestimmte Aufgaben auch noch zu übernehmen.
Zudem ist es bequem, nicht Nein zu sagen. Die Verantwortung für das eigene Leben wird dadurch abgegeben, und die anderen sind schuld, wenn man sich nicht selbst verwirklicht, sich ausnutzen lässt oder enttäuscht ist. Man muss keine Konflikte aushalten, geht unangenehmen Situationen aus dem Weg und kann das Bild als netter, immerzu hilfsbereiter Mensch aufrechterhalten.
Angst vor Konflikten
Um sich daran zu erinnern, dass ein Nein oder ein Ja immer eine Entscheidung ist, die man trifft und für die man verantwortlich ist, hat sich die US-amerikanische Autorin und Professorin Brené Brown einen silbernen Ring anfertigen lassen: „In diesen unangenehmen Momenten, wenn jemand auf meine Antwort wartet, drehe ich den Ring um meinen Finger und sage mir innerlich immer wieder ‚Wähle Mut, nicht Groll‘." Denn Brown hat in ihrer Arbeit herausgefunden, dass die Menschen mit dem größten Mitgefühl diejenigen sind, die die besten Grenzen setzen können. Wer nicht lernt, klare Linien zu ziehen und sie entsprechend zu kommunizieren, hegt früher oder später oft Groll gegenüber denjenigen, gegen die er sich nicht gut abgegrenzt hat. Weil man schon wieder die Aufgaben des Kollegen übernommen hat, zum zigsten Mal alleine für das Essen auf der Party gesorgt hat oder dem Kunden schon abermals einen zu großen Preisnachlass gewährt hat.
„Die mitfühlendsten Menschen fragen nach dem, was sie brauchen. Sie sind in der Lage, Nein zu sagen, und wenn sie Ja sagen, dann meinen sie das auch. Sie sind so mitfühlend, weil ihre Grenzen ihnen erlauben, frei zu sein von Groll", so Brown. Ihr Kollege Chad Buck, Psychologe an der Vanderbilt University, hat in seiner Forschung noch mehr Vorteile identifiziert, wenn man lernt, Nein zu sagen und Grenzen ganz klar zu definieren. Dazu zählt etwa, dass man besser für sich selbst sorgt und in der Folge weniger gestresst und weniger verärgert ist. Aber auch, dass man anderen mehr vertraut, verständnisvoller wird und mehr Zeit mit den Menschen verbringt, die einem wichtig sind und die Dinge tut, die man wirklich tun will.
Die Fähigkeit, Nein zu sagen, entwickelt der Mensch schon in der Trotzphase. Wenn ein Kind dann lernt, dass es Ärger bekommt oder Liebesentzug droht, wenn es Nein sagt, passt es sich dem Elternwillen an und entwickelt kein autonomes Selbst. Aber auch im Erwachsenenalter ist diese Kompetenz noch lernbar.
Negative Situationen analysieren
Hilfreich ist es, Situationen in denen man nicht Nein sagen konnte, zu analysieren. Zum Beispiel, indem man vergangene Fälle aufschreibt oder sie in einem Gespräch durchspielt. Auch körperliche Reaktionen können ein Hinweis darauf sein, dass das ausgesprochene Ja eher ein gequältes als ein ehrliches war. Etwa wenn sich bei der Bitte des Anderen schon alles im eigenen Körper zusammenzieht. Die gute Nachricht: Wer den eigenen Verhaltensmustern auf die Schliche kommt, kann diese künftig ändern.
Mithilfe von verschiedenen Tipps und Tricks kann der Mensch auch lernen, besser Nein sagen zu können. Eine Idee ist es etwa, ein Nein immer mal wieder nur für sich selber auszusprechen. Also zu sagen „Ich kann das leider nicht übernehmen" oder „Mein Schreibtisch quillt über" – genau wie viele andere Fähigkeiten auch, ist es Übungssache, Nein zu sagen. In der entsprechenden Situation fällt eine Absage dann leichter. Ein weiterer Tipp ist, sich Bedenkzeit zu verschaffen. Oft entstehen Jas in Momenten, in denen man Zeitdruck empfindet, zustimmt und es hinterher bereut. Wer etwa sagt „Ich möchte darüber nachdenken und gebe dir später Bescheid", verschafft sich die nötige Zeit, um zu überlegen, ob man zusagen oder helfen will und das auch im Rahmen der eigenen Möglichkeiten.
Eine Alternative, an die viele Menschen, die schlecht Nein sagen können, nicht denken, ist das sogenannte Kompetenz-Ja. Das Kompetenz-Ja verdeutlicht, dass ein Nein nicht mit einem Nie gleichzusetzen ist, sondern dass man der Bitte des anderen nachkommt – aber zu den eigenen Bedingungen. Das kann zum Beispiel bedeuten, zu einem anderen Zeitpunkt oder mit zusätzlicher Hilfe.
Die Art und Weise, wie man Nein sagt, kann man grundsätzlich nach dem Ideal der Stimmigkeit von Friedemann Schulz von Thun entscheiden. Also: Was entspricht mir, und was entspricht der Situation? Ein Nein muss nicht immer nett sein, sondern kann auch mal sehr direkt rauskommen und bedarf dabei nicht zwingend einer weiteren Erklärung. Wer freundlich Nein sagen will, kann sich an sechs Schritten orientieren: 1. Nicht allzu lange warten. Nein sagen wird nicht einfacher, wenn man es hinauszögert. 2. Höflich sein und sich für das Angebot beziehungsweise die Anfrage bedanken. 3. Nicht lügen und sich 4. Nicht entschuldigen. 5. Einen Grund und 6. gegebenenfalls auch eine Alternative anbieten. Will der Chef zum Beispiel, dass man eine Aufgabe übernimmt, für die man gerade absolut keine Zeit hat, könnte man etwa sagen: „Ich verstehe, wie wichtig das ist. Können wir uns meine aktuellen Aufgaben einmal gemeinsam anschauen? Gerade ist sehr viel los, und ich möchte die Dinge gerne gut machen. Deshalb muss ich entweder bei anderen Projekten pausieren, oder wir müssen jemand anderen finden, der diese Aufgabe übernimmt".
Selbst oder mit Hilfe von außen
Bei einem Freund, der fragt, ob man Babysitten oder beim Umzug helfen kann, wenn man selbst schon überfordert ist und andere Verpflichtungen hat, könnte eine Antwort wie diese helfen: „Ich muss dir diesmal absagen. Ich brenne schon an beiden Enden und habe mir fest vorgenommen, keine Verpflichtung mehr einzugehen, bis ich die Chance hatte, wieder durchzuatmen und Energie zu tanken."
Absagen, die allgemein gehalten sind, könnten beispielsweise lauten: „Vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben, aber ich muss leider absagen" oder „Vielen Dank für Ihr freundliches Angebot. Obwohl ich nicht teilnehmen kann, freue ich mich sehr, dass Sie an mich gedacht haben".
Wer versucht, seinen Verhaltensmustern selbst oder mit Hilfe von außen auf die Schliche zu kommen, ein paar Tipps berücksichtigt und konsequent übt, kann durch das Nein-Sagen jede Menge positiver Veränderungen erzeugen. Oder wie es Apple-Gründer Steve Jobs formulierte: „Nur wer lernt, Nein zu sagen, kann sich auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig sind".