Wochenlang hat der eskalierende Streit um die Flüchtlings- und Integrationspolitik das Land beherrscht. Seit der Causa Maaßen ist es erst einmal ruhiger geworden um dieses Thema. Dabei fordert die Integration die Gesellschaft grundlegender heraus als jede Regierungskrise um eine Personalie.
Annette Widmann-Mauz wird nicht müde, die Leistungen des Saarlandes hervorzuheben. Und es klingt bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung nicht nur nach einer Pflichtübung, die sie als Gast beim inzwischen dritten saarländischen Integrationsgipfel zu absolvieren hätte. Dass zu Zeiten des großen Flüchtlingszuzugs in der Landesaufnahmestelle Lebach beispielgebend gearbeitet wurde, hatte sich bis nach Paris herumgesprochen. Entscheidend war nicht nur die vergleichsweise schnelle Verteilung auf Kommunen, sondern die damals erste Zusammenarbeit von Behörden und Arbeitsagentur vor Ort. Dass Flüchtlinge nicht nur registriert und fürs Erste untergebracht und ärztlich betreut wurden, sondern eben auch gleich auf berufliche Fähigkeiten und Qualifikationen geprüft wurden, sei „notwendig und wichtig" gewesen, weil damit erste Voraussetzungen für weitere Integration geschaffen wurden, betont die Integrationsbeauftragte, um gleich hinzuzufügen, dies seien „Angebote, die ich für notwendig halte auch für zukünftige Ankereinrichtungen".
Das Wort „Ankerzentrum" vermeidet die Integrationsbeauftragte, womöglich, weil im Dreiklang „Ankunft, Entscheidung, Rückführung" die Betonung von Heimat- und Innenminister Horst Seehofer immer auf „Rückführung" gelegen hat. Von Integration ist nicht die Rede.
Auch das ist ein Grund, warum sich nicht nur der Saarländische Flüchtlingsrat gegen die Umwandlung von Lebach in ein Ankerzentrum eingesetzt hat, gestützt übrigens auf einen Appell, den anerkannte Wohlfahrtsverbände vom Paritätischen bis zur Arbeiterwohlfahrt ebenso mitgetragen haben wie Gewerkschaften oder die Katholische Arbeitnehmerbewegung KAB. Inzwischen ist klar: Lebach wird zum Anker, aber nicht -zentrum, sondern -einrichtung, wie es in den offiziellen Pressemitteilungen hieß. Es gibt keine Zäune, dafür aber mehr Geld vom Bund, auch für die Arbeit von Caritas, Diakonie und DRK, aber auch für mehr Bundespolizisten. Und Lebach soll mit seinem offenen Charakter eine Piloteinrichtung werden, von der er hoffe, „dass noch weitere Bundesländer dem Vorbild folgen", lässt sich Seehofer in der gemeinsamen Pressemitteilung mit Saar-Innenminister Klaus Bouillon („Vorreiterrolle ausgebaut") und Ministerpräsident Tobias Hans („Landesaufnahmestelle hat bundesweiten und internationalen Vorbildcharakter") zitieren.
„Alle Bereiche auf dem Prüfstand"
Ohnehin scheint Widmann-Mauz von Seehofers regelmäßigen Überraschungen und Vorstößen ziemlich genervt. Gefragt nach Seehofers Spruch von der „Mutter aller Probleme", antwortet die Staatsministerin auf einem Umweg. Es gehe darum, deutlich zu machen, „welchen Beitrag die Menschen, die eingewandert sind, für unser Land geleistet haben. Unser Land würde wirtschaftlich und kulturell nicht da stehen, wo wir stehen." Ein Credo, das sie immer wieder betont und das nun wahrlich nicht nach Mutter aller Probleme klingt. Ohnehin zieht sich bei Widmann-Mauz die Linie durch, positive Aspekte stärker zu betonen, ohne dabei Probleme zu negieren.
Drei Jahre nach dem großen Zustrom gehe es darum, auf der Basis bisheriger Erfahrungen „alle Bereiche auf den Prüfstand zu stellen". Zum Beispiel beim bisherigen Sprachangebot. „Hier müssen wir besser werden, was die Integrationskurse und ihre Qualität anbelangt. Das ist notwendig, denn wenn wir es jetzt nicht tun, werden wir es später bereuen. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren."
Sie setzt vor allem auf differenzierte Angebote. Es sei nun mal ein Unterschied, ob ein Akademiker aus Syrien oder ein Arbeiter aus Somalia unterrichtet werden soll. Sprache sei nun mal der Schlüssel zur Integration in Gesellschaft und auf den Arbeitsmarkt.
Differenzieren will sie auch, was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft. Für diejenigen, die bereits im Land sind, will sie Ausbildungshilfen und assistierte Ausbildung ausbauen und für die, „die geduldet sind, die sich integriert haben, eine Ausbildung gemacht haben oder beschäftigt sind, die die Sprache gelernt haben, sich nichts haben zuschulden kommen lassen, die brauchen wir auch". Folglich setzt sie sich für eine „pragmatische Stichtagsregelung ein, damit wir auch deren Potenziale nutzen können". Ansonsten brauche Deutschland längst ein Fachkräftezuwanderungsgesetz, „damit wir weiter wirtschaftlich stark bleiben. Fachkräftemangel ist derzeit das größte Wachstumsrisiko unseres Landes." Wann Deutschland den Zustand, der oft als „Lebenslüge" beschrieben wird, beenden wird, antwortet sie angesichts der aktuellen Diskussionsgemengelage nur mit einem Achselzucken. Dass eine klare Trennung zwischen Asyl und Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt längst überfällig ist, bezweifelt im Grundsatz niemand mehr. „Wir sind ein weltoffenes Land, das Schutz gewährt. Dennoch kann Deutschland nicht die Probleme der ganzen Welt in Deutschland lösen. Wir haben Verantwortung durch gute Entwicklungszusammenarbeit. Und wir definieren, was in unserem Interesse ist, wie andere Länder es auch tun. Wir brauchen Fachkräfte und sind auch bereit zu definieren, welchen Bedarf wir haben. Damit wissen Menschen, dass und wie man in Deutschland einwandern kann, und sind nicht auf das Asylrecht und damit auf Schleuser und Schlepper angewiesen." Ansonsten sei Vielfalt eine Tatsache, Integration eine Entscheidung, und alles, nur „kein Spaziergang".
Selbstbewusstsein und Toleranz
Das gilt umso mehr, als die Vorstellungen, was unter Integration zu verstehen sei und wie ein solches Ziel erreicht werden könnte, durchaus unterschiedlich aufgefasst werden, wie nicht zuletzt der Streit um eine „Leitkultur" deutlich gemacht hat. Wie viel Vielfalt kann eine Gesellschaft aushalten? Dass sich das nicht in einem Zahlenraster festmachen lässt, hat symbolisch der Streit um eine „Obergrenze" gezeigt. Und dass selbst die Forderung nach einem „Verfassungspatriotismus", also eine Verpflichtung auf die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundwerte, ihre Tücken haben kann, haben Verhandlungen vor den höchsten Gerichten gezeigt. Wie verhält es sich mit Meinungsfreiheit in einer multikulturellen Gesellschaft, wie mit der Glaubensfreiheit, wie mit dem Gleichbehandlungsgebot, dem Minderheitenschutz? Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio meint: „Wer Individualismus als Leitprinzip moderner Gesellschaften ernst nimmt, der muss eine Pluralität ertragen." Wo sind dann Grenzen der Toleranz dessen, was eine Gesellschaft aushalten muss und kann? Die in den Strafgesetzen definierten Grenzen sind eindeutig. Vieles andere ist nicht so klar. Di Fabio wirft deshalb die Frage auf, ob eine Verfassung die Einheit einer Gesellschaft garantieren könne, wenn die Gesellschaft selbst sich in unterschiedliche Kulturräume „multikulturell fragmentiert" aufteilt. „Selbstbewusstsein ist eine Bedingung für Toleranz", stellt di Fabio fest und schlussfolgert: „Wer an sich selbst zu sehr zweifelt, wird denjenigen nachlaufen, die Stärke und Konformität versprechen." Diese vor zehn Jahren getroffene Aussage wirkt heute prophetisch. •