Vor der WM der Kunstturner in Katar wurde das deutsche Team von Verletzungspech verfolgt. Bei den Männern ruhen die Hoffnungen auf einem 31-Jährigen. Bei den Frauen sagte Weltmeisterin Schäfer ihren Start ab.
Marcel Nguyen kann man getrost als Influencer bezeichnen. In seinem Sport ist er ohnehin ein Idol, seit einem Jahrzehnt erturnt sich der Münchener nun schon auf nationaler und internationaler Bühne Medaillen. Doch auch in sozialen Netzwerken ist sein Einfluss nicht gerade klein, fast 300.000 Menschen folgen ihm auf Facebook, 80.000 auf Instagram. So viele Fans hat kein anderer deutscher Turner, selbst manche Bundesligaprofis kommen nicht auf solche Zahlen.
„Ich freue mich immer, wenn ich unsere coole und schön anzusehende Sportart auf so einer Plattform vermarkten kann", sagt Nguyen. Der Sohn eines Vietnamesen und einer Deutschen hat auch in Asien viele Fans. Bei Wettkämpfen dort herrscht regelmäßig Kreischalarm, wenn Nguyen die Bühne betritt: „Ich habe da so viele coole Sachen erlebt. Dass es so krass werden könnte, hätte ich nie gedacht."
Bei den diesjährigen Weltmeisterschaften der Kunstturner in Doha (vom 25. Oktober bis zum 3. November) wird die Euphorie deutlich kleiner sein. Katar ist alles andere als ein Turnerland, aber das Emirat am Persischen Golf hatte den Zuschlag 2014 bekommen. Eine Zeit, in der Katar mit viel Geld und Einfluss zahlreiche Sportereignisse an sich riss. Aufgrund der politischen Spannungen auf der arabischen Halbinsel stand die WM vor einem Jahr noch auf der Kippe. Morinari Watanabe, Präsident des Turn-Weltverbandes FIG, sprach öffentlich von einem „Plan B".
Dieser Plan blieb jedoch in der Schublade, die Weltmeisterschaften finden wie geplant im bis zu 15.500 Zuschauer fassenden Aspire Dome von Doha statt. Mit Nguyen als deutschen Vorturner. Der bereits 31-Jährige sicherte sich bei den Deutschen Meisterschaften in Leipzig Ende September den Titel im Mehrkampf – acht Jahre nach seinem ersten und bis dahin einzigen Sieg in dieser Königsdisziplin. Mit den 80,125 Punkten haderte er aber, was sicher auch daran lag, dass er sich zehn Tage zuvor eine Rippe angebrochen hatte und nur mit Schmerzen sein Programm durchziehen konnte.
„Es ist ein schönes Gefühl, nach so langer Zeit den Titel zu gewinnen. Es war kein perfekter Wettkampf von mir", sagte Nguyen: „Bis zur WM will ich mehrere Übungen noch aufstocken." Da stimmt ihm Bundestrainer Andreas Hirsch zu. Technisch müsse sich der dreimalige Europameister steigern, „aber erfreulich ist, dass Marcels Einstellung stimmt".
Nguyen als deutscher Vorturner
Hirsch muss auf eine Leistungssteigerung von Nguyen hoffen, denn viele andere Hoffnungsträger hat er nicht. Reckspezialist Andreas Brettschneider riss sich bei der DM beim Einturnen die Achillessehne im linken Fuß, er fällt für die WM aus. Selbst ein Karriereende ist möglich, nachdem der 29 Jahre alte Chemnitzer sich diese Verletzung schon 2015 im rechten Fuß zugezogen hatte. Damals wie heute passierte das Unglück beim Doppel-Tsukahara am Boden.
Fast genauso schmerzt das Formtief von Lukas Dauser. Der Mehrkampfmeister des Vorjahres belegte in Leipzig einen indiskutablen 20. Platz. Das eine Jahr Pause nach seiner schweren Knieverletzung hat der Vize-Europameister aus Unterhaching längst noch nicht aufgeholt. „Das war ein Totalausfall, aber das weiß Lukas auch selbst", sagte Bundestrainer Hirsch, der seinen Schützling bei der ersten WM-Nominierung nicht berücksichtigte. Neben Nguyen hatten nur der Hannoveraner Andreas Toba und Nick Klessing (Halle) ihre WM-Tickets sicher.
Eine Hintertür hielt Hirsch für Dauser aber offen, weil dieser beim ersten Teil der WM-Qualifikation in Stuttgart ein sehr erfreuliches Sechskampf-Comeback hingelegt hatte. Für Dauser wäre eine WM-Nominierung eine Belohnung für die zuletzt schwere Schufterei: „Die letzten 16 Monate waren schon der Horror."
Beim Turnfest 2017 in Berlin war er bei seiner Ringe-Übung auf der Matte unglücklich mit dem rechten Knie weggeknickt, im Krankenhaus schockte ihn dann der Arzt – nicht nur mit der Diagnose, sondern auch mit den Heilungschancen. Dauser gab die Worte des Arztes wieder: „Herr Dauser, das ist leider nicht nur ein Kreuzbandriss, das ist die XXL-Variante. Der Meniskus ist so blöd zertrümmert, dass ich Ihnen nicht sagen kann, ob Sie je wieder springen oder landen können."
Es folgten: Operation, Aus für die WM 2017 in Montreal, mühsame Reha. „Mir war immer klar, ich werde wieder springen. Egal was das Knie sagt", so Dauser. Sollte es noch nicht für die WM in Doha reichen, dann will er auf jeden Fall für seinen Traum von Olympia 2020 in Tokio weiterkämpfen. Die Sommerspiele sind auch für Nguyen das Ziel, es wären seine insgesamt vierten.
Zwei Silbermedaillen konnte Nguyen 2012 in London erturnen, am Barren und sogar im Mehrkampf, als erster deutscher Turner mit Olympia-Edelmetall seit 76 Jahren. In jener Zeit war nicht Fabian Hambüchen der große Star im deutschen Turnen, sondern Marcel Nguyen. Es folgten TV-Auftritte und Werbeverträge. Doch spätestens 2016, als Hambüchen in Rio mit Gold am Reck zum gefeierten Sportstar aufstieg, war die alte Rangfolge wiederhergestellt. „Fabi war schon der, der unsere Sportart in den Fokus gerückt hat", sagte Nguyen mal in einem Interview: „Mit Sicherheit war da ein Schatten. Fabi hat aber auch immer Erfolge gehabt. Und es kam ja auch eine Zeit, in der ich erfolgreicher wurde, da hat sich das aufgeteilt. Es hat jeder seinen Platz gehabt."
Seit Hambüchens Rücktritt liegt deutlich mehr Verantwortung auf Nguyens schmalen Schultern. „Ich denke schon, dass ich in gewisser Weise ein Vorbild für die Jüngeren bin. Ich versuche, meine Erfahrungen mit ihnen zu teilen und sie auf die Aufgaben vorzubereiten", sagt er. Doch in erster Linie will Nguyen selbst erfolgreich sein. Mit seiner Erfahrung will er die junge Garde in Schach halten. „Zum Beispiel im Training", erklärt er, „da brauche ich weniger Versuche und ein geringeres Pensum, turne dafür aber konzentrierter." Bei der WM in Doha will Nguyen am Barren auf jeden Fall ins Finale kommen.
Seitz mit Ambitionen
Finalambitionen hegt bei den Frauen auch Elizabeth Seitz. Die 24-Jährige holte in Leipzig mit ihren Siegen im Mehrkampf und am Stufenbarren ihre nationalen Titel Nummer 20 und 21 und überflügelte damit die bisherige Rekordinhaberin Karin Büttner-Janz aus Berlin (20 DDR-Meisterschaften). „Das war für mich alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Vor zwei Wochen hatte ich noch ein bisschen Angst, den Anschluss noch nicht gefunden zu haben", sagte die Weltcup-Gesamtsiegerin: „Ich bin erst bei 70 Prozent."
Eine dreimonatige Trainingspause nach einer Verletzung hatte sie zur Jahresmitte weit zurückgeworfen. Doch die Stuttgarterin ist eine Kämpferin – und nervenstark. „Eli’ ist und bleibt eine Wettkampfsau", sagt Cheftrainerin Ulla Koch bewundernd. Bei der DM brachte Seitz den entscheidenden Sprung auf den Punkt in den Stand und zog so noch an Kim Bui und Sophie Scheder vorbei. Alle drei bekamen von Cheftrainerin Koch das WM-Ticket ausgestellt, auch die Kölnerin Sarah Voss wurde nominiert.
Die angeschlagene Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer wird dagegen nicht bei der WM an den Start gehen. Offiziell wegen einer Fußverletzung, doch ihre Form war zuletzt auch nicht sonderlich WM-reif. Die 21-Jährige hat eine schwere Zeit hinter sich.
Nicht nur die Verletzung, auch die Trennung von Trainerin Gabi Frehse zerrte an den Nerven. Schäfer wirkte in Leipzig nicht austrainiert, bei ihrem einzigen Start am Stufenbarren verpatzte sie ihre Übung komplett und bekam nur 10,050 Punkte.
„Die Sache bei Pauline ist doch schmerzhafter und langwieriger als gedacht", sagte Koch. Die Cheftrainerin macht für Schäfer seit ein paar Wochen die Trainingssteuerung, doch diese suboptimale Zwischenlösung soll nach der WM ein Ende haben.
Ob Schäfer am Bundesstützpunkt Chemnitz bleibt, ist offen. Genau wie die konkreten Gründe für das Aus des Erfolgs-Duos Schäfer/Frehse. Die Athletin gab in einer Mitteilung des Deutschen Turner-Bundes (DTB) „neue Trainingsreize und eine neue Organisationsform" als Gründe an, die Trainerin sprach von einer „nicht gegebenen Grundlage" für einen weiteren gemeinsamen Weg.
Sophie Scheder, Olympia-Dritte am Stufenbarren, wird dagegen weiterhin von Frehse in Chemnitz betreut. Scheder hat nach ihrem operativen Eingriff am Finger ein gelungenes Comeback gefeiert und könnte bei der WM für eine Überraschung sorgen.
Vielmehr fiebern die Athleten jedoch den Titelkämpfen in einem Jahr entgegen, denn die finden zu Hause in Stuttgart in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle statt. Die war schon 1989 und 2007 Schauplatz einer Kunstturner-WM gewesen. Im exklusiven Vorverkauf wurden bereits 14.000 Tickets abgesetzt. Auf eine solche Begeisterung dürfen sich Nguyen, Seitz und Co. in Doha eher nicht freuen.