Mit Pur spielt Hartmut Engler in ausverkauften Fußballstadien und scheint in sich selbst zu ruhen. Im inzwischen 16. Album „Zwischen den Welten" fordert er mit markanter Stimme mehr Toleranz und setzt ein Zeichen gegen Fremdenhass.
Herr Engler, in „Alles was noch kommt" halten Sie Rückschau auf Ihr bisheriges Leben. Warum sind Ihre Fünfziger gar nicht so schlecht?
Das Lied ist eine Bestandsaufnahme und ein nettes Understatement. Eigentlich sind die Fünfziger sogar richtig gut. Wir fühlen uns als Band noch nicht zu alt für das ganze Brimborium. Wir haben unsere Kinder inzwischen groß gekriegt und deswegen viel Zeit für Dinge, für die wir früher keine Zeit hatten. Wir machen immer noch sehr gern Musik, sind dabei aber wesentlich entspannter.
Was gelingt Ihnen heute besser als früher?
Das Lampenfieber ist erträglicher geworden. Meditation hilft mir da sehr. Ich lese viel über buddhistische Philosophie. Der spirituelle Geist, der sich in mir breit macht, ist in die Texte mit eingeflossen. Zudem habe ich mir als Klangfarbe eine Sitar gewünscht. Als junger Mensch bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil ich mich mit dieser Institution nicht voll identifizieren konnte. Mir hat dann aber eine gewisse Spiritualität gefehlt. Über das Buch „Das weise Herz" von Jack Kornfield habe ich eine andere Denkweise entdeckt, die mir das Leben leichter macht. Wir sitzen jetzt gerade hier, reden ganz entspannt und ich muss nicht an übermorgen denken. Die Achtsamkeit für das, wo wir gerade sind und was uns umgibt, geht uns Menschen verloren durch unsere permanente Planerei.
Welche Einstellung haben Sie zum Älterwerden und zum Alter?
Wenn man permanent im Jetzt ist, ist das Alter relativ egal. Das Älterwerden ist ja kein Vorgang, der plötzlich, sondern schleichend passiert. Irgendwann spürt man, dass einen das Herumspringen auf der Bühne mehr stresst als früher.
Man sagt, jung sei, wer noch staunen und sich begeistern kann. Wofür können Sie sich heute begeistern?
Das ist richtig und wichtig! Für mich ist es nach wie vor schön, über den Sternenhimmel, den Sonnenuntergang, die Rehe im Garten, Eichhörnchen in meinem Lieblingsbaum oder über die Frösche im Teich zu staunen.
Wie haben Sie Ihre wahre Bestimmung gefunden?
Es ist mit mir passiert, weil ich es forciert habe. Weil ich das Hin- und Herspringen zwischen den Extremen mag, und weil es mich persönlich weiterbringt, mich immer wieder gegen meine Lampenfieberanfälle zu stellen. Die Bühne ist mein Bungee-Jumping. Dafür habe ich sehr viel gearbeitet.
Was ist das für ein Gefühl, vor 66.000 Menschen zu spielen?
Es ist ein irres Erlebnis! Es hat etwas Surreales, und wenn ich die Videoaufzeichnungen solcher Konzerte zu Hause auf dem Sofa anschaue, kann ich oft nicht glauben, dass ich das bin und dass wir als Band das sind, die ehemalige Schülerband aus Bietigheim-Bissingen.
Sie vermieten Ihr Elternhaus an syrische Flüchtlinge. Wollen Sie damit ein Zeichen setzen?
Ich fand das richtig, weil meine Eltern auch Heimatvertriebene waren. Der Gedanke, ein Haus, das Flüchtlinge gebaut haben, an andere Flüchtlinge zu vermieten, ist sehr tröstlich. Zuhause gab es ein altes Bild, das ich meiner Mutter mitgebracht hatte. Darauf stand „Erst wenn du in der Fremde bist, weißt du, wie schön die Heimat ist". Irgendwann fragten die Syrer meine Schwester, die sich um unser Elternhaus kümmert, per Whatsapp, ob die Miete bei ihr eingegangen sei. Und als Profil hatten sie das Bild mit dem Spruch genommen. Da kamen meiner Schwester und mir die Tränen.
Welche Leidensgeschichte haben diese Syrer?
Sie kommen aus einem kleinen Dorf, das komplett zerbombt wurde. Da steht kein Haus mehr. Ein Bruder ist Arzt, einer Apotheker und einer Student. Das sind ganz feine Leute. Zuerst dachte ich, in solch einem konservativen Dorf gibt es vielleicht Anfeindungen, aber die Nachbarschaft hilft ihnen sogar. So kann es auch gehen.
Kippt die positive Stimmung der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen gerade?
Das Perverse ist, da, wo kaum Flüchtlinge sind, wo der Ausländeranteil am geringsten ist, da wächst die Fremdenfeindlichkeit. In anderen Teilen des Landes, wo Toleranz und Offenheit herrscht, werden sie eigentlich gut integriert. In meinem Heimatort Bietigheim-Bissingen gibt es natürlich auch Flüchtlinge. Sie sind in für sie gebauten Unterkünften untergebracht. Ich habe noch nicht gehört, dass das Leben in Bietigheim unsicherer geworden wäre.
In „Planet der Affen" singen Sie, dass die Affen die Welt regierten. Wie konnte es soweit kommen?
Eine Textzeile lautet: „Ein Zustand, den kein kluger Mensch im Ernst für möglich hält". So geht es mir auch. Wir wollten auf diese Weise nur mitteilen, dass auch wir uns große Sorgen über die weltweiten Entwicklungen machen. Im Kleinen, im täglichen Leben, ist es schon zu spüren: Bei meinem letzten Besuch hier in Berlin habe ich zwei Welten von Taxifahrern erlebt. Der eine glaubte, alle Zeitungen würden lügen und bezog seine Informationen lieber aus irgendwelchen Foren im Internet. Das, was ich glaube, lässt sich journalistisch nachprüfen, aber es schien diesen Mann nicht zu interessieren. Am nächsten Tag erzählte mir ein dunkelhäutiger Taxifahrer freudestrahlend im Berliner Dialekt, wie sehr er Deutschland liebe. Das war wieder mal zwischen den Welten in ein und derselben Stadt.
Haben Sie eine Lieblingsverschwörungstheorie?
Nein. Die einzige Sache, bei der ich kurz ins Zweifeln kam, war eine Dokumentation über das World Trade Center, in der behauptet wurde, die Türme seien gesprengt worden, weil das Gebäude marode war. Das klang durchaus logisch, aber man kann es auch anders erklären. Und dabei lassen wir’s dann.
Muss man als Künstler Stellung beziehen in einer Zeit voller unerfreulicher Ereignisse?
Ich beziehe als Mensch Stellung. Weil mir viele zuhören, überlege ich mir genau, wie ich mich äußere. Und ich muss es aushalten, dass ich etwas zurückkriege. Ich kann auf einem Album zwölf Liebeslieder singen, dann entziehe ich mich jeder Diskussion und nehme auch nicht an der sozialen Veränderung teil. Oder ich bin – wie bei Pur üblich – offen für alle möglichen Themen.
Hilft Kunst in schwierigen Zeiten?
Zumindest weiß ich durch das Feedback, das ich bekomme, dass unsere Musik für viele Menschen durchaus eine Relevanz hat. Es geht bis hin zu Statements wie „Ihr habt mein Leben gerettet". Ich habe eine Verantwortung, wenn ich mich öffentlich äußere, und die nehme ich auch an. Deshalb ist alles, was ich singe, mehrfach durchdacht.
Legen Sie auf die Texte mehr Wert denn je?
Ich war schon immer sehr sorgfältig, das sind ja keine Schnellschüsse. Als ich um meinen Vater getrauert habe, schrieb ich „Walzer für dich", um mir noch einmal klarzumachen, was da passiert ist. Beim letzten Album habe ich mir das Leben meiner Mutter, die damals 90 wurde, noch einmal angeschaut. Als sie dann starb, war ich mit mir im Reinen. Und in „Winter 59" fragte ich mich, warum ich so bin, wie ich bin. Ich habe festgestellt, dass, wenn mein Bruder nicht nach fünf Monaten abgegangen wäre, weil meine Mama beim Hausbau zu kräftig zupackte, die Familienplanung 1959 abgeschlossen gewesen wäre. Stattdessen bin ich auf die Welt gekommen.
In welche Lebenssituation wurden Sie hineingeboren?
Ich wurde in eine Lebenssituation hineingeboren, in der ich als Nachzügler das Glück der Familie dann doch noch vervollständigt habe. Ich wurde verhätschelt, aber ich musste wirklich alle happy machen. Meine Eltern haben sich viel gestritten, und ich war der Schlichter, weil ich ein lieber kleiner Kerl war. Man hat mir die Last auferlegt, für Harmonie zu sorgen. Das hat mich zu einem harmoniesüchtigen Menschen gemacht. Ich gehe keiner Konfrontation aus dem Weg, aber ich ertrage es bis heute ganz schwer, mich von jemandem zu trennen, mit dem ich nicht im Reinen bin. Das verursacht bei mir wiederum Affen im Kopf, die mich nicht einschlafen lassen. Das ist ein Bild aus der buddhistischen Philosophie. Ich muss mich mit dem eigenen Atem und Herzschlag befassen, um die Affen ruhig zu kriegen.
Bekommen Sie Ihre Affen im Kopf immer gezähmt?
Nein, natürlich nicht immer, aber ich arbeite daran. Es gibt das Ego, was den Menschen in seinem Umfeld auszeichnet und das Bewusstsein, was ihn sich selbst betrachten lässt. Das kann dann sagen: „Tob dich mal aus, aber hör mit dem Veitstanz auf! Du hast gerade kein Problem!" Man darf am Tanz des Lebens teilnehmen, aber man sollte auch ab und zu zur Ruhe kommen.
Haben Sie Eigenschaften, die Sie selbst nur schwer akzeptieren können?
Ja. Aber ich hoffe, die fallen anderen nicht so auf.
Haben Sie nach 33 Jahren und über 15 Alben die perfekte Technik gefunden, Songs zu schreiben?
Nein. Wenn ich eine gute Idee für einen Text habe, schreibe ich sie auf viele Zettelchen oder tippe sie ins Handy. Oder ich warte, bis ich von Martin, Ingo oder Götz die Musik bekommen habe. Das ist die Inspirationsquelle. Bei „Zwischen den Welten" passte es zum Beispiel wie die Faust aufs Auge. Zum Schreiben gehe ich nachmittags in den Garten, in mein „Hirn-Häusle" ein paar Meter von unserem Haus entfernt.
Ist die Band über die Jahre immer erfolgreicher geworden?
Wir sind auf einem hohen Level geblieben. Bis 2012 war der Plattenverkauf leicht zurückgegangen und wir spielten weniger Konzerte. „Sing meinen Song", die Qualität des letzten Albums und unser unverwüstlicher Party-Hit-Mix haben uns dann sehr geholfen, eine Art zweiten Frühling zu erleben.
Wie ehrgeizig sind Sie?
Natürlich haben wir auch das Sportive, aber wir wollen vor allem die Songs mehr auf den Punkt bringen, weil wir das richtig finden. Die Verkaufszahlen kann man nicht mehr toppen, die gehen im Moment automatisch runter. Mit dem letzten Album haben wir trotzdem noch unseren fünften Echo bekommen als bestverkaufende deutsche Rock- und Popband.
Gehen Sie bei der Vorbereitung auf eine Tournee noch einmal all Ihre Platten durch?
Wir haben unseren Kanon von Songs, die nicht fehlen dürfen. Vom neuen Album halte ich fast alles für spielbar. Wir wollen aber keine drei Stunden spielen, weil das bei unserer Art von Show einfach zu anstrengend ist. Wenn wir auf zweieinhalb Stunden kommen, nimmt das neue Album eine Dreiviertelstunde ein und der Rest ist Freiraum. Da sind 20 Hits, die müssen rein, zum Teil in Medleyform und dann gibt es natürlich auch noch die eine oder andere Perle, die wir auf alten CDs wiederentdecken. Die Leute werden offenbar nicht müde, „Abenteuerland" und „Lena" zu mögen. Was völlig irre ist: dass der Party-Hit-Mix uns das junge Publikum in die Hallen treibt. Sie wollen diese Lieder mal im Original hören.
Welches konkrete Ereignis hat Sie zu dem Song „Gasthaus" inspiriert?
Als ich anfing, mich in die buddhistische Philosophie einzulesen, litt ich an einem Burn-out. In einem dieser Bücher war das Gedicht „Das Gasthaus" von dem Sufi-Dichter Rumi abgedruckt. Es hat mich so sehr berührt, dass ich es auswendig gelernt habe. Der gleichnamige Song ist meine Interpretation dieses Gedichts. Auf diese Idee kam ich durch das Coldplay-Stück „Kaleidoscope". Darauf wird Rumis Gedicht rezitiert und im Hintergrund singt Obama mit. Für meine Fassung habe ich dann lauter schöne und böse Bilder erfunden. Es ist ein richtiges kleines Werk geworden.
„Freund und Bruder" ist Ihrem Bandkollegen Ingo Reidl gewidmet, der vor zwei Jahren schwer erkrankt ist. Wie geht es ihm inzwischen?
Ingo hat das Lied mitkomponiert. Ich denke, beim nächsten Album wird er im Studio wieder komplett involviert sein. Bei der Tour leider noch nicht.
Wie versuchen Sie, Ingo Reidl wieder aufzubauen?
Zum Beispiel durch das Lied „Freund und Bruder". Ich glaube, es hat ihn extrem berührt. Ansonsten sind wir alle aus der Band und Ingos Umfeld als Freunde für ihn da. Aber natürlich können wir ihn nicht gesund zaubern.
„Zu Ende träumen" erzählt von der Kraft von Wünschen, Zielen und Träumen. Wird es je gelingen, den Hass aus der Welt zu schaffen?
Nein. Buddhistisch betrachtet gehört das Leid zum Leben. Und ich betrachte den Hass als einen Teil des Leides. Aber man kann zumindest sich selbst so weit bringen, dass man an diesem Gefühl nicht teilnimmt. Ich empfinde sehr wenig Hass in meinem Leben. Wenn ich eine Zeit lang Wut habe, dann ist das dem gesunden Selbsterhaltungstrieb geschuldet. Zum Beispiel, weil mich jemand betrogen hat oder ich verlassen worden bin. Leute, die hassen oder hassen müssen, haben ein ganz schweres Los.
Was empfinden Sie, wenn Sie die Nachrichten einschalten und Donald Trump wettert wieder gegen illegale Einwanderer?
Dann könnte ich maximal eine Wut kriegen. Ich wundere mich einfach nur, dass so viele Amerikaner sich von diesem Menschen an der Nase herumführen lassen.
Wovon träumen Sie?
In dem Lied „Zu Ende träumen" gibt es den Satz „Keiner weiß besser als wir, wie das geht". Wir als Band haben es ja zu Ende geträumt. Ich träume davon, dass meine Lieben und ich möglichst lange gesund bleiben. Auch mit der Erfahrung, welchen Leidensweg mein Freund Ingo hinter sich hat.