Die Lebenslinien von Jutta Heine und Hans Gerst könnten unterschiedlicher nicht sein. Die eine hat ihre Heimat verlassen müssen, um zu überleben. Der andere, um sein berufliches und persönliches Glück zu finden. Es verbindet sie ihre jeweilige Liebe zur Wahlheimat Schwerin.
Jutta Heine liebt ihren Job. Dreimal pro Woche führt die rüstige Rentnerin große und kleine Gäste durch Schwerin. Die Besucher merken ihr die Begeisterung für ihre Wahlheimat an. Zum einen ist da Heinrich der Löwe, der die Stadt 1160 gegründet hat. Und zum anderen gibt es die Nähe zur Ostsee, die ganz bezeichnend ist für das maritime Flair der kleinsten Landeshauptstadt Deutschlands. Vor der Wende war die Mittsiebzigerin Reiseleiterin. Sie entdeckte damals mehr Länder als ihre Mitbürger, wenn es um die Staaten jenseits der Oder-Neiße-Linie ging. Sie kannte sie wie ihre Westentasche „Ich begleitete Reisegruppen nach Polen, Tschechien und Russland", schwärmt sie noch heute. „Dazu musste ich eine saubere Weste haben. Und die hatte ich, denn ich bin immer wieder zurückgekehrt", ergänzt die studierte Ökonomin. „Und meine Gäste sind mir auch nie weggelaufen."
Jutta Heine weiß, was Flucht und Vertreibung bedeuten. Als kleines Mädchen hat sie beides am eigenen Leib erlebt. Damals, als sie Königsberg verlassen musste. Stalins Dritte Weißrussische Front bereitete Anfang 1945 den Angriff auf Ostpreußen vor. Eine sowjetische Übermacht von 240.000 Soldaten setzte zum Sturm an. Den deutschen Verteidigern mangelte es an Waffen und Munition. Unter den etwa 125.000 Belagerten war auch Jutta Heine. Die Überlebenden waren dem Abrechnungsterror der Besatzungsmacht ausgesetzt. „Nur raus aus der Stadt", sagte ihre hochschwangere Mutter. Der Vater war irgendwo in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Wo das war, daran erinnert sich Jutta Heine heute nicht mehr. „Raus bedeutete für uns, noch einen Platz auf dem Kohlenfrachter zu bekommen." Die Flucht über die Ostsee gelang der kleinen Familie. Auch die Großmutter war dabei. Nach vier Tagen erreichte das Schiff Kolberg im heutigen Polen. Hier wurde Gabriele geboren. Mutter und Kind brauchten Ruhe. „Zehn Tage blieben wir in Kolberg, dann war meine Mutter kräftig genug, mit uns die Reise fortzusetzen", erinnert sich Jutta Heine. Sieben Jahre war sie damals. Die Familie schaffte es in den Güterzug nach Westen. „Die warfen da Stroh rein, und dann kam die Menschenmenge. Jeder wollte weg." Die Zugfahrt dauerte sechs Tage. Endlich kamen sie in Rehna bei Schwerin an. Der Vater überlebte das Lager und kam ein Jahr später in die Kleinstadt. Jetzt war die Familie wieder beisammen. 1950 folgte der Umzug nach Schwerin, wo der Vater eine Stelle im Finanzamt fand. „Von da ab wurde über das Erlebte nicht mehr gesprochen", erinnert sich die rüstige Stadtführerin. Doch die Gefühle von damals hat sie nicht vergessen. „Weiter, weiter, nur durchkommen, rief uns die Großmutter damals zu." Auch später noch, in Rehna, ging es nur ums Überleben: „Was esse ich heute, was esse ich morgen. Wir nahmen das, was wir bekommen konnten. Milchsuppe, Trockenbrot und Zuckerrübensirup bedeuten für mich heute noch das Essen in der Nachkriegszeit."
In Rehna ging es nur ums Überleben
Noch einmal in ihre Geburtsstadt will Jutta Heine nicht mehr. „Keine größere deutsche Stadt wurde durch Krieg und Nachkriegszeit dermaßen zerstört wie Königsberg", sagte einmal die Journalistin und Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, die ganz in der Nähe auf Schloss Friedrichstein aufwuchs.
Für Familie Heine wurde Schwerin zur neuen Heimat. Aber die Erinnerungen an das heutige Kaliningrad blieben und halten immer noch an. Es gibt immer nur einen Ort, an dem man geboren wurde, und den man nie vergisst. Auch für Jutta Heine. „Mein Geburtsort ist heute russisches Protektorat." Nein, sie sei nie mehr zurückgekehrt, hätte die Spuren ihrer Kindheit nicht mehr nachverfolgen wollen. Umso mehr liebe sie ihre Wahlheimat Schwerin – von ganzem Herzen. Für den schnellen Besucher hat sie ein paar Tipps parat: „Unbedingt ins Märchenschloss rein und eine Führung mitmachen. Dann das Staatliche Museum gleich gegenüber besuchen und sich von der Gemäldegalerie verzaubern lassen. Und am Ende den Gotischen Dom aus dem Jahr 1171 besichtigen, und wenn möglich, auch einem Orgelkonzert lauschen." Denn die Ladegast-Orgel im Inneren sei im Originalzustand und etwas ganz Besonderes. Und dann gerät Jutta Heine ins Schwärmen. Denn es gibt ein buntes „Weihnachtsfenster" aus feinster Glasmalerei. Besucher, die im Dezember oder zum neuen Jahr kommen, gibt sie folgenden Tipp: „Betrachten Sie das Fenster von innen, wenn die Spätnachmittagssonne hereinscheint. Es ist, als wenn ein Meer von Kerzen lodere. Einfach wundervoll. Dazu der Duft der großen Weihnachtstanne vor dem Altar! Das werden Sie nie mehr vergessen."
Zwei ihrer Gäste wohnten im nahen Seehotel „Frankenhorst". Das Gelände kennt Jutta Heine. Aber nicht sehr gut. „Anfang der 80er-Jahre war das spätere Hotel ein Gästehaus der SED. Auch Erich Honecker logierte dort", ergänzt sie. Damals war die ganze Gegend weitläufig abgesperrt und militärisches Sperrgebiet. Niemand gelangte auch nur in die Nähe. Anekdoten und Geheimnisse ranken sich noch heute um den idyllischen Ort am Ziegelaußensee. Ab 1921 war es Landgut, Inspirationsquelle und Heimat für den bekannten DDR-Schriftsteller Hans Franckh. Ihm ist heute im „Frankenhorst" eine Bibliothek gewidmet. „Lesungen und kulturelle Veranstaltungen finden häufig statt", sagt Geschäftsführerin Petra Schmidt.
Hans Gerst, Hotelier der Raphael Gruppe, der 1995 das „Frankenhorst" übernommen hatte, kennt die Liste mit Honeckers bevorzugten Speisen. „Er liebte zum Beispiel Rinderfilet mit Cabernet Sauvignon."
Auch Erich Honecker logierte hier
Gerst ist gelernter Tischler und weiß um die Schwierigkeiten, einmal in seinem Traumberuf arbeiten zu können. Vor allem dann, wenn man jung ist. Er wurde im österreichischen Klagenfurt geboren und wuchs in Bad Gastein auf. Wie in Familienbetrieben üblich, sollte der Sohn einmal die elterliche Tischlerei übernehmen. Deshalb absolvierte er brav eine Schreinerlehre. Das Tischlern machte ihm Spaß, solange es ums Möbelbauen ging. Als die örtlichen Hotels jedoch zunehmend mit preiswerten Möbeln von der Stange ausgestattet wurden und er nur noch zur Instandsetzung gebraucht wurde, reichte es dem jungen Mann. Genau zu diesem Zeitpunkt kam das Angebot der Inhaberin eines örtlichen Hotels gerade recht. Sie bot ihm an, während der Saison an der Rezeption zu arbeiten. „Sie rechnete damit, dass ich außerhalb meiner Arbeit so alle möglichen Reparaturarbeiten erledigen könnte", schmunzelt er. So machte der junge Tischler seine ersten Hotelerfahrungen. „Junge, du musst hinaus in die Welt", rief ihm einer der Stammgäste zu. Diese Aussage ließ ihn nicht mehr los. Die Welt hieß in diesem Fall Bielefeld, wo jener Stammgast zwei Hotels betrieb. Der 22-jährige Gerst ergriff die Chance seines Lebens und machte seine Hotelkaufmannsprüfung in der nordrhein-westfälischen Stadt. Letztlich ist er dann in Hamburg hängen geblieben. Es folgte ein rasanter Aufstieg mit mittlerweile acht eigenen Hotels in Hamburg, einem in Bremerhaven und dem Frankenhorst in Schwerin. Und er hat ein Vorbild: Udo Lindenberg, der genau wie er auch Jahrgang 1946 ist. „Denn wir beide leben gerne in Hotels und sind irgendwie alte Rocker geblieben", lacht er.
Bei ihm hat Glück eine ganz große Rolle gespielt. Daraus hat der gebürtige Österreicher seine eigene Unternehmensphilosophie entwickelt: Junge Leute aus Spanien werden im Rahmen des Programms „MobiPro-EU" zu Hotelfachangestellten ausgebildet. In die Wege geleitet wurde diese Initiative vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Ihr ehrgeiziges Ziel: die Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit auf der iberischen Halbinsel. Nur ganz langsam und mit europäischer Hilfe, wie der aus Deutschland, geht es dem krisengeschüttelten Spanien besser. Doch auch im Inland gibt es einiges zu tun. Das weiß Gerst, und genau da setzt er an: Erfolgreiche Geschäftsführer in seinen Hotels werden nach mindestens fünf Jahren am Unternehmenserfolg beteiligt.
Seine Lebensgefährtin Charlotte Steffens trägt mit ihrem ganz persönlichen Wohlfühlprogramm zum Erfolg von „Frankenhorst" bei. Dazu gehören zweifelsohne Carlotta, Brunhilde, Lola, Peppone und Camillo. Letztere sind zwei Alpakas, die sich auf einen Spaziergang im nahen Wald freuen. „Das ist meditativ und ganz naturnah", sagt sie. Auf ihren Streifzügen lässt sie sich gerne von kleinen und großen Gästen begleiten. Denn sie kennt die Panoramablicke auf den See und die verschlungenen Waldpfade am allerbesten. Und die Schafe Carlotta und Brunhilde blöken aufgeregt, wenn die Truppe vorbeikommt. Eselin Lola mag es dagegen sehr, von Kindern gestriegelt zu werden.
Jutta Heine und Hans Gerst. Sie verbindet das Gleiche: Sie haben ihr Glück gefunden.