Viele wissenschaftliche Studien sind ohne Versuchspersonen undenkbar. Gerade Studierende nutzen diese Möglichkeit als Nebenjob – eine Parallelwelt, die im Alltag fast nie sichtbar wird.
Die Universität
Eine Fußgänger-Ampel in der Freiburger Innenstadt. An der Metallstange flattern Wohnungsgesuche, Che-Guevara-Parolen und eine Terminankündigung für die nächste Kuschelparty. Zwischen den bunten Flyern sticht ein Aufruf hervor: „Immer der Nase nach!", verkündet ein Zettel im Din-A4-Format. Gesucht werden Paare im Alter von 22 bis 40 Jahren, die an einer Studie teilnehmen sollen. Das Thema: Stresserleben und Geruchssinn.
Der Aufruf stammt von der Abteilung für Biologische und Differentielle Psychologie der Uni Freiburg. Er ist kein Einzelfall: In fast jeder Universitätsstadt gehören Studien mit Versuchspersonen zum Alltag. Mal geht es darum, am Computer eine Taste zu drücken, ein anderes Mal um eine möglichst schnelle Reaktionszeit oder körperliche Ausdauer. Für Studierende können sich solche Experimente lohnen: Fast immer gibt es eine Aufwandsentschädigung; für manche werden Laborbesuche zum regelrechten Nebenjob.
Gebraucht werden menschliche Versuchskaninchen für unterschiedlichste Zwecke. Matratzen-Hersteller wollen wissen, wie bequem es sich auf einem neuen Modell schläft; die Pharma-Industrie muss neue Medikamente testen, bevor sie auf den Markt dürfen. Der Übersichtlichkeit halber konzentrieren wir uns in diesem Bericht auf staatliche Institutionen, genauer gesagt: auf Hochschulen und Unikliniken.
„Ohne Probanden geht es nicht"
Die erste Überraschung: Obwohl sich allein in Freiburg mehrere Tausend Studierende für Tests zur Verfügung stellen, hat die Universität kaum Informationen darüber. „Das wird bei uns nicht zentral erfasst", erklärt Uni-Sprecher Nicolas Scherger. Zuständig seien die jeweiligen Fakultäten, auch fürs Budget, das für solche Experimente eingeplant wird. Ähnlich äußert sich die Uniklinik. Auch dort laufen zahlreiche Studien, an denen Menschen beteiligt sind. Wie viele davon Studierende sind, wisse man aber nicht.
Die Professorin
Andrea Kiesel kommt gleich zur Sache. „Ohne Probanden geht es nicht", sagt die Freiburger Psychologie-Professorin. „Woher sonst sollten wir unsere Erkenntnisse bekommen?" Das Institut für Psychologie ist ein Teil der Uni, der besonders stark auf Versuchspersonen angewiesen ist. „Allein in unserer Abteilung machen wir pro Jahr 30 bis 50 Experimente, an denen jeweils 20 bis 100 Personen beteiligt sind," ergänzt Kiesel. Sie zeigt auf einen Stapel von Abschlussarbeiten, die auf ihrem Schreibtisch liegen. „Die beruhen alle auf Experimenten, die wir gemacht haben."
Die meisten der Versuche werden direkt vor Ort erhoben. Im Psychologischen Institut, einem Betonklotz in der Engelbergerstraße, stehen dafür mehrere Räume zur Verfügung. Die Ausstattung: Computer, Tastaturen, Kameras, die Augenbewegungen erfassen. Auch Gehirnströme, Herzschläge und die Hautleitfähigkeit können gemessen werden, wenngleich längst nicht nur Hightech zum Einsatz kommt. Oft bestehen die Experimente schlicht aus Befragungen.
Damit der Nachschub an Testpersonen nie versiegt, geht das Institut auf die Suche: mit Flyern, Aushängen, Annoncen und im Internet wird für die Versuche geworben; die Aufwandsentschädigung beträgt in der Regel acht Euro pro Stunde. Zudem existiert eine eigene Datenbank, in der knapp 2.000 Versuchspersonen gespeichert sind. Interessierte bekommen eine E-Mail, sobald eine neue Testreihe startet. Wer Psychologie studiert, ist ohnehin dabei – die Teilnahme an Experimenten gehört verpflichtend zum Studium.
„Ein sauberer, kontrollierter Versuch"
„Bei Bachelor- und Masterarbeiten fragen Studierende oft ihre Bekannten, ob sie mitmachen", sagt Andrea Kiesel. Auch sonst gebe es genügend Interessenten. Doch wie repräsentativ ist ein solches System, wenn Probanden aus dem immergleichen Pool rekrutiert werden? Kiesel winkt ab. „Wir machen hier keine Intelligenztests, sondern untersuchen grundlegende kognitive Fähigkeiten, die bei allen Personen gleich sind." Dass die meisten Testpersonen jung und studentisch sind, stelle kein Problem dar. Die größere Herausforderung sei eine andere: hinterher die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Deshalb braucht man einen sauberen, kontrollierten Versuch", sagt die Professorin. Dazu gehöre, dass immer nur eine Variable verändert werden dürfe. Kiesel grinst: „Sie können nicht bei der ersten Person die Augenbewegungen in einem hellen Raum verfolgen und beim nächsten die Rollos runterlassen." Zum Glück passiere das selten: Das „saubere Experimentieren" lernten die Studierenden schon im ersten Semester.
Die Probanden
Elisa Emminger sitzt auf einem elektrischen Stuhl. Nicht wirklich, aber es sieht so aus. Die 28-jährige Sport-Studentin trägt eine Halskrause, die ihre Haltung fixiert. Auf ihrem Kopf liegt eine Spule, die einen Stromfluss im Gehirn auslöst – alles im Dienste der Wissenschaft. In diesem Fall geht es um Grundlagenforschung. Ein Doktorand will mithilfe des Experiments herausfinden, wie das Gehirn arbeitet, wenn ein Mensch eine bestimmte Bewegung ausführt – in diesem Fall Studentin Elisa, die einen Joystick in der Hand hält und auf einen Bildschirm blickt. Vier Stunden muss die Probandin in dieser Haltung verharren. Es gibt bequemere Jobs: Ins „Neurolab" der Sportwissenschaft dringt kein natürliches Licht. Überall liegen Kabel und technische Gerätschaften herum. Die Aufgabe mit dem Joystick hat etwas Monotones. Doch die junge Frau sieht’s gelassen. „Immerhin ist es hier klimatisiert. Das kann man nicht von jedem Raum an der Uni sagen." Im Laufe ihres Studiums hat Emminger schon an diversen Versuchen teilgenommen. Wie viele es sind, weiß sie nicht mehr genau, wahrscheinlich zwischen zehn und fünfzehn. Sie ist schon mit Schuhen über eine Gleichgewichtsplatte gelaufen, hat auf eine Zielscheibe geschossen und Kommilitonen bei ihren Masterarbeiten assistiert. Geforscht wird am Institut für Sportwissenschaft eigentlich immer. Wer als Proband arbeiten möchte, findet schnell einen Job.
Zehn Euro pro Stunde erhält die Studentin für den Gehirnversuch. Als Kellnerin oder studentische Aushilfskraft würde sie wahrscheinlich mehr verdienen. Wieso also dieser Job? Emminger überlegt. „Es ist nett verdientes Geld", sagt sie. „Manchmal sind die Studien auch einfach interessant." Sie könnten ihr auch im Alltag helfen, zum Beispiel, wenn sie über Wochen ein spezielles Trainingsprogramm absolviert. Spaß mache nicht immer alles, räumt Emminger ein. „Manchmal tut man auch einfach einem Dozenten einen Gefallen."
Ein paar Räume weiter joggt Lilly Hauptmann (21) auf einem Laufband. Am Anfang geht es gemächlich zu: Das Band läuft mit sechs Kilometern pro Stunde. Doch alle drei Minuten wird es um zwei km/h schneller. Der Herzschlag der Studentin erhöht sich; ihr Kopf wird röter. Zwischendurch nimmt ein Mitarbeiter einen Blutstropfen aus ihrem Ohr ab. Er liefert den aktuellen Laktatwert.
„Mit solchen Experimenten können wir überprüfen, wie Personen auf bestimmte Nahrungsergänzungen reagieren", erklärt Versuchsleiter Patrick Dressler. So lasse sich feststellen, ob sich die Ausdauer dadurch erhöhe. „Wir machen hier regelmäßig Studien mit bis zu hundert Probanden", sagt Dressler. Billig sei das Ganze nicht: Allein das Laufband koste mehrere Tausend Euro.
Der Institutsleiter
„Sportstudenten sind neben der Fruchtfliege das am besten erforschte Lebewesen." So fasst Albert Gollhofer, Leiter des Instituts für Sportwissenschaft, die Situation in seinem Arbeitsbereich zusammen. Zwischen 300 und 400 Probanden nehmen jedes Jahr an einem Versuch teil; rund 60 Prozent sind Studierende. Auf dem Sportler-Areal an der Schwarzwaldstraße gibt es neben Seminarräumen und Turnhallen auch fünf Labore.
Zehn bis zwölf große Experimente laufen dort pro Jahr, teilweise mit mehreren hundert Teilnehmern. Das Spektrum ist groß – vom Ausdauertraining am Fahrrad-Ergometer bis zu Studien im Flugzeug. „Wir untersuchen, wie sich die Schwerkraft auf den Bewegungsapparat auswirkt", sagt Gollhofer. Dafür nehmen Probanden regelmäßig an sogenannten Parabelflügen teil, auf denen für einige Sekunden Schwerelosigkeit herrscht. „So ein Flug kostet schnell 10.000 Euro", sagt Gollhofer. „Da brauchen Sie erfahrene Probanden, denen nicht schlecht wird."
Auftragsforschung ist wichtige Geldquelle
Neben solch spektakulären Tests gibt es jede Menge Auftragsforschung. Welche Dämpf-Eigenschaften hat ein neuer Laufschuh? Wie lassen sich Sprungverletzungen durch Orthesen verhindern? Wie gut weist ein neues Material den Schweiß von Sportlern ab? „Wir kooperieren dafür zum Beispiel mit Adidas", erklärt Gollhofer. Auftragsforschung sei eine wichtige Geldquelle für das Institut.
Dass Versuchspersonen oft aus demselben Milieu stammen, stelle kein Problem dar. „Wenn Sie wissen wollen, wie ein geübter Organismus auf Bewegungstraining reagiert, können Sie keinen Untrainierten nehmen", sagt Gollhofer. Woher die Probanden stammen, sei je nach Experiment ganz unterschiedlich. „Nehmen wir an, wir untersuchen, wie sich Ausdauertraining auf ältere Menschen auswirkt. Dann brauchen wir natürlich Leute von der Straße."
Der Mensch als Testobjekt: Lohnt sich das? Der Institutsleiter zuckt mit den Schultern. „Viele Sportstudenten kennen ihre Dozenten nur aus der Lehre", sagt Gollhofer. „Durch solche Experimente lernen sie sie mal persönlich kennen." Und finanziell? „Die zehn Euro pro Stunde sind eher eine Unterstützung", so Gollhofer. Aber es gebe Ausnahmen. „2017 haben wir eine dreimonatige Studie zur Bettruhe gemacht", erzählt Gollhofer. „Die Probanden bekamen dafür eine gute Entschädigung." Genau gesagt: 15.000 Euro pro Person.