Das Zittauer Gebirge in Sachsen ist Deutschlands kleinstes Mittelgebirge, doch es gibt viel zu sehen. Die Region ist Wanderrevier und Heimat des Weihnachtssterns, sie bietet Ruinen und Räubergeschichten, sakrale Schätze und steinerne Tiere. Und mancherorts wähnt man sich auf einmal mitten in der Toskana.
Man kann gar nicht anders, als an den „Kaiser" zu denken. Es ist schon ein paar Jahre her, dass Franz Beckenbauer in einem Werbespot die Frage stellte: „Ja, ist denn heut’ schon Weihnachten?" Und genau dieser Gedanke kommt einem unweigerlich auch, wenn man nach Herrnhut kommt. Die Kleinstadt in Sachsen ist die Heimat der berühmten Herrnhuter Sterne, die jedes Jahr zum Fest zu Tausenden in deutschen Wohnzimmern hängen. Anfang des 19. Jahrhunderts leuchtete der erste Stern in den Internatsstuben der Glaubensgemeinschaft der Herrnhuter Brüdergemeine. Ein Erzieher hatte sich den Stern ausgedacht, eigentlich um ein besseres geometrisches Verständnis zu vermitteln. Daraus entwickelte sich der Brauch, wie man ihn heute kennt. Noch immer werden die Sterne in Handarbeit hergestellt, rund 100 schafft jeder Mitarbeiter am Tag. In der Schauwerkstatt kann man ihnen dabei über die Schulter schauen.
Doch „Herrnhut hat viel mehr zu bieten als nur die Sterne", sagt Konrad Fischer, Leiter des örtlichen Kultur- und Fremdenverkehrsamtes. Er ist in Herrnhut geboren und kennt alle Geheimnisse des Ortes. Beim Rundgang durch die Altstadt mit ihren typischen Mansarddächern und den historischen Gartenhäusern im asiatischen Stil erzählt Fischer, wie die Brüdergemeine einst aus Böhmen in die Oberlausitz kam, in Herrnhut eine Heimat fand und von dort aus bald darauf seine Missionarsarbeit begann: in Tibet, Grönland, Alaska und Afrika. Durch die weltweiten Kontakte war der gemeindeeigene Wirtschaftsbetrieb zeitweise eines der größten Handelsunternehmen Europas. 1827 importierte die Firma als erste in Deutschland Zigarren aus Kuba.
Gartenhäuser im asiatischen Stil
Typisch für Herrnhut sind außerdem die vielen Linden, von denen Hunderte den Weg hinauf zum Gottesacker säumen. 1730 wurde der Friedhof der Brüdergemeine angelegt, auf dem alle Gräber mit dem gleichen schlichten Grabstein versehen sind, unabhängig vom Stand. „Es symbolisiert die Gleichheit der Menschen im Tod", erklärt Konrad Fischer. Der Gottesacker liegt etwas oberhalb des Ortes – vom Aussichtsturm hat man eine herrliche Aussicht auf die Umgebung. Der Blick reicht über die Vulkankuppen des Zittauer Gebirges bis hinüber zum Iser- und Riesengebirge auf tschechischer beziehungsweise polnischer Seite.
Das Zittauer Gebirge am Dreiländereck ist mit einer Länge von 14 Kilometern und einer Breite zwischen einem und knapp fünf Kilometern Deutschlands kleinstes Mittelgebirge. Doch genau wie in Herrnhut, der „kleinen Stadt von Welt", gibt es in der Region auch sonst viel zu entdecken. Die kompakte Größe macht es möglich, dass man die Gegend in kurzer Zeit umfassend erkunden kann.
Nur in der Oberlausitz findet man die traditionellen Umgebindehäuser, besonders viele zum Beispiel in Waltersdorf, wo es allein 230 Häuser dieser Art gibt. Umgebindehäuser sind ein besonderer Haustyp, der Blockbau-, Fachwerk- und Massivbauweise miteinander verbindet. In Löbau steht mit dem König-Friedrich-August-Turm von 1854 der einzige noch erhaltene gusseiserne Aussichtsturm in Europa und wahrscheinlich der älteste gusseiserne Turm überhaupt. „Fast so schön wie der Eiffelturm", meint eine Frau. Die Aussicht ist phänomenal. Schwindelfrei sollte man allerdings sein, wenn man das 28 Meter hohe Bauwerk erklimmen will.
In Löbau wurde auch der Oberlausitzer Sechsstädtebund gegründet, mit dem sich Bautzen, Görlitz, Zittau, Kamenz, Lauban (heute Luban in Polen) und eben Löbau vom 14. Jahrhundert an gegenseitigen Schutz und Beistand versprachen. Das Bündnis hielt über Jahrhunderte und war ein Garant für die wirtschaftliche und kulturelle Blüte, welche die Städte der Oberlausitz erlebten. Der einstige Wohlstand ist bis heute zu erkennen: Auf dem Marktplatz von Zittau etwa mit seinem klassizistischen Rathaus fühlt man sich an einen Palazzo Grande erinnert, wie man ihn eher in Siena, Pisa oder Florenz in der Toskana erwarten würde. Das Gebäude trägt deutlich die Handschrift des preußischen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel – einer seiner Schüler, Carl August Schramm, vollendete den Bau. Zittau empfängt seine Gäste mit einem barocken Stadtbild. Sehenswert sind die vielen Brunnen in der Altstadt, das imposante Salzhaus, in dem sich heute eine Ladenpassage befindet, sowie die Blumenuhr mit Meißner Porzellanglockenspiel, auf dem alle Viertelstunde ein Volkslied erklingt.
Die meisten Besucher kommen jedoch wegen zwei Stücken Stoff. Die beiden Zittauer Fastentücher sind einzigartig in Deutschland. Ein Fastentuch verhüllt in der Fastenzeit in katholischen und evangelischen Kirchengebäuden die bildlichen Darstellungen Jesu. Es trennt die Gemeinde vom Altarraum und dessen Schmuck – Fasten für das Auge sozusagen. Das Große Zittauer Fastentuch, ausgestellt im Museum Kirche zum Heiligen Kreuz, ist dabei besonders beeindruckend. Allein schon wegen der Maße von 8,20 mal 6,80 Meter, aber auch wegen der 90 biblischen Szenen von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht – eine riesige Bilderbibel für all jene Kirchgänger, die dem Lesen nicht mächtig waren. Beinahe wäre dieser Schatz für immer verlorengegangen. Als die sowjetische Armee gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Sachsen einrückte, entdeckten sie im Geheimversteck auf dem Berg Oybin auch das Fastentuch, ohne jedoch zu wissen, worum es sich handelt. Die Soldaten zerrissen den Stoff und kleideten damit einen Schuppen aus, den sie zur Sauna umfunktioniert hatten, damit die Wärme nicht so schnell entweicht. Die Flecken kann man bis heute erkennen.
Das Versteck auf dem Oybin kann man heute besichtigen. Auf der Spitze des Berges erheben sich die Ruinen des einstigen Klosters und der böhmischen Königsburg. Es ist ein einzigartiges Ensemble aus Architektur und Natur, das schon die Maler der Romantik wie Caspar David Friedrich faszinierte.
Karl Friedrich Schinkel hat in Zittau gewirkt
Ganz andere textile Schätze sind in Großschönau im Deutschen Damast- und Frottiermuseum zu bewundern. Was dort gezeigt wird, hätten die Besucher einst niemals sehen dürfen: Die Bewohner hüteten die Stoffe auf ihren Webstühlen wie ihre Augäpfel – genauso wie die Meißener ihr Porzellan. Die Männer waren sogar vom Militärdienst befreit, damit keiner in Versuchung kam, das kostbare Geheimnis auszuplaudern. Denn die Damaststoffe aus Großschönau waren so wertvoll wie Gold, ein Tuch kostete 30.000 Taler. Kaiser, Könige und Fürsten in ganz Europa speisten von Tafeln mit Großschönauer Tischwäsche.
Am besten lässt sich das Zittauer Gebirge mit der Schmalspurbahn erkunden, die von Zittau aus auf zwei Strecken nach Oybin und nach Jonsdorf unterwegs ist. In Bertsdorf teilt sich die Strecke – die Ausfahrt von gleich zwei Dampflokomotiven aus dem denkmalgeschützten Bahnhof ist ein besonderer Anblick nicht nur für Eisenbahnfreunde. Das Zittauer Gebirge ist aber auch ein ausgezeichnetes Revier für Wanderer und Mountainbiker. Rund 300 Kilometer gut markierter Wanderwege ziehen sich durch die Region und den gleichnamigen Naturpark. Beliebte Ziele sind zum Beispiel die Lausche, mit 792 Metern der höchste deutsche Berg östlich der Elbe, oder der Kottmar, an dessen Fuß eine der drei Quellen der Spree entspringt. Doch auch die Sandsteinfelsen rund um Oybin und Jonsdorf, die an die Sächsische Schweiz erinnern, sind ein schönes Ziel und auch bei Kletterern sehr beliebt. Die Gegend wird auch als Steinzoo bezeichnet, weil die Felsformationen an Tiere erinnern: Bernhardiner, Nashorn, Papagei und Schildkröte.
Besonders interessant ist in Jonsdorf eine Tour zu den Mühlsteinbrüchen, wo über 350 Jahre hinweg Mahlsteine gebrochen und nach ganz Europa geliefert wurden. Der Weg führt durch einige enge Schluchten hindurch, in denen gerade an einem nebligen Tag eine ganz besondere Stimmung herrscht. Fast glaubt man, dass hinter dem nächsten Felsen Johannes Karasek hervorspringen könnte: ein Räuberhauptmann, der von den Reichen nahm und an die Armen weitergab – eine Art Robin Hood des Zittauer Gebirges also. Im Karasek-Museum in Seifhennersdorf kann man das Leben des Räubers nacherleben. Heiner Haschke erzählt die Geschichten derart lebhaft, dass man zuweilen den echten Karasek vor sich wähnt. „Ich trage die Uniform des Hauptmanns jetzt schon so lange, dass das mittlerweile abfärbt", sagt er und lacht. An manchen Tagen ertappe er sich sogar dabei, dass er sich am Telefon mit Karasek meldet.