Bislang waren vor allem Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine die Gesichter der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen". Die Diskussionen um das Projekt waren ebenso heftig wie erwartbar – und theoretisch. Die ersten Versammlungen sind ein Test, ob die Bewegung auch eine Basis hat.
Oskar Lafontaine ist als Redner öffentlicher Großveranstaltungen in seinem Element. Er kann aber auch die Rolle des Moderators, der sich selbst zurücknehmend Wortmeldungen des Publikums zu sortieren versucht. Beides war gefordert beim ersten großen Treffen der „Aufständischen" in Lafontaines saarländischer Heimat.
Beim landesweiten Auftakt nahm das überraschend vielköpfige Publikum das Motto „Aufstehen" durchaus wörtlich. An den Saalmikrofonen bildeten sich Schlangen von Teilnehmern, die mitreden wollten, den Beiträgen wurde überraschend aufmerksam und fast ohne Zwischenrufe zugehört. Bei einigen Bemerkungen war Lafontaine anzumerken, dass er am liebsten gleich mit einer erklärenden Antwort dazwischengegangen wäre. Er, der von politischen Gegnern gerne als „der Welterklärer von der Saar" verspottet wird, ließ der Diskussion über weite Strecken ihren Lauf und bewies damit ein gutes Gespür für die Atmosphäre. Bloß nichts aufkommen lassen, was zu sehr an Parteitagsregime erinnern könnte, und vor allem getreu dem überparteilichen Motto: Man muss nicht in allem bei „Aufstehen" einer Meinung sein.
Mit gut 300 Besuchern hatte die Auftaktveranstaltung deutlich mehr Resonanz gefunden, als zunächst erwartet worden war. Der Hausmeister im Bürgerhaus Burbach hatte zunächst für weniger als die Hälfte der Besucher Stühle bereitgestellt. Viele Gesichter waren bekannt, von Parteitagen, hauptsächlich der Linken, oder von Gewerkschaftsversammlungen. Und jeder, der ans Mikrofon trat, hob hervor, hier endlich mal in Ruhe und ohne disziplinierende Parteitagszwänge und Stoppuhr seine Überlegungen zur neuen Bewegung ausbreiten zu können.
„Ich bin kein neidischer Mensch, aber ein bisschen sozial angehaucht", leitete einer seine Ausführungen ein, um schnell zum Kern zu kommen: Was sollen die Beitragsbemessungsgrenzen in den Sozialversicherungen? Da würden Leute von Beitragspflicht befreit, weil sie reich sind. Mit einer solchen Politik treibe man die Menschen doch geradezu der AfD in die Arme. Überhaupt beschäftigte der Umgang mit der AfD etliche Redner. Ist man gleich „rechts", wenn man offene Grenzen für alle für eine weltfremde Illusion hält? In der Diskussion über den Umgang mit AfD-Wählern mahnte eine junge Frau, die sich als Pflegerin vorstellte, eine andere Diskussionskultur an. „Ich finde die ‚wir gegen die’-Mentalität ganz schlimm".
Keine „Linke 2.0", aber bekannte linke Ziele und Positionen
Auch das Verhältnis zur derzeit extrem unter Druck stehenden SPD war Thema. Ein Besucher, der sich selbst als SPD-Mitglied outete, empfahl schlicht einen subversiven Marsch durch die eigene Partei. In vielen Ortsvereinen seien nur noch ein paar Sozialdemokraten übriggeblieben, die sich folglich jeweils selbst gegenseitig für Ämter und Funktionen wählen würden. Deshalb sein Rat: „Geht in die Ortsvereine, wählt die Heinis ab, und am Schluss seid Ihr die Nahles los".
Was sich durch alle Beiträge durchzog, war der Wunsch, sich für eine „soziale" und „gerechte" Politik zu engagieren, aber eben nicht in organisierten Parteiritualen. Dafür steht das Beispiel zweier junger Frauen, die erkennbar nervös vor so viel Publikum erzählten, wie sie in einem Café in der Nähe des Saarbrücker Marktbrunnens, einem Wahrzeichen der saarländischen Landeshauptstadt, spontan eine Gruppe gegründet und sich Gedanken über mögliche Aktivitäten gemacht haben. Die erste „Aufstehen"-Ortsgruppe im Saarland in Eigenregie, der sie den Namen „Brunnen" gaben. Oskar nahm’s lächelnd zur Kenntnis, Brunnen heißt schließlich auf Französisch la fontaine.
Was die Sammlungsbewegung will, fasste Lafontaine noch einmal mit den Schlagworten „Frieden, Gerechtigkeit und umweltgerechtes Wirtschaften" zusammen. „Solange Ungerechtigkeit herrscht, werden Demokratie abgebaut und Freiheit eingeschränkt", so sein Credo. Dass es die neue Bewegung „nicht leicht" haben werde, zeigten die Anfeindungen. Von denen hatte der saarländische Kabarettist Detlev Schönauer einiges, vor allem im Netz, abbekommen. Er verzichtete auf eine Kabarett-Einlage, nach Spaß sei ihm nach diesen Reaktionen nicht mehr zumute. Stattdessen erklärte seine Motivation: Es gehe nicht um „eine Linke 2.0", sondern um die Menschen, die sich von der derzeitigen Parteienpolitik nicht ernst genommen fühlten. Sein Plädoyer: „Ich stecke Menschen nicht in Schubladen – außer bei Dummheit und Ignoranz". Womit er offenkundig vielen mit ihren parteipolitischen Erfahrungen aus der Seele sprach.
Prominente Unterstützung gab es zudem aus Gewerkschaftskreisen. Mark Baumeister, Chef der NGG und bekannt durch sein unerschrockenes Engagement, betonte, Gewerkschaften hätten „die Schnauze voll von Großen Koalitionen". Deren Politik sei Schuld, dass Menschen Flaschen sammeln müssten. „Eine Schande in einem reichen Land". Er räumte zwar ein, dass in der Berliner Groko einiges angepackt worden sei, kritisierte aber, am Beispiel Mindestlohn: „Die machen was, bleiben dann aber immer auf halber Strecke stehen".
Künstler, Gewerkschafter als Zugpferde, Menschen, die sich für eine linke Politik unabhängig von einer aktuellen (oder ehemaligen) Parteimitgliedschaft engagieren wollen, die sich in und von Parteien inhaltlich nicht ernst genommen und in ihrem Engagement durch starre Strukturen abgewürdigt und ausgebremst fühlen. Den Auftakt in Saarbrücken hätten sich die Initiatoren kaum passender vorstellen können. Ein Großteil der Besucher war sicher auch und vielleicht vor allem wegen der Person Lafontaine, für den es ein Heimspiel war, gekommen. Vieles erinnert an die Anfänge der Linken im Saarland. Ob sich daraus eine überparteiliche Bewegung entwickeln kann, ist noch schwer auszumachen. Die Möglichkeit zu politischem Engagement ohne Parteienzwang übt offenbar einen gewissen Reiz aus. Für eine Bewegung, die etwas bewegen will, ist das aber allenfalls ein erstes Vortasten. Und ob die „Bewegung" aushalten kann, dass sich in ihr unterschiedliche Meinungen artikulieren, die sich nicht in Parteitagsmanier „zur weiteren Beratung" in die Gremien abschieben und damit entschärfen lassen, wird ein Lernprozess mit offenem Ausgang.