Seit dem Brexit-Votum tobt in den großen Parteien ein erbitterter Streit, wie hart oder sanft die Landung ausfallen soll. Einzig die dritte große politische Kraft, die Liberalen, kämpfen unverdrossen für ein zweites Referendum, einen Exit aus dem Brexit. Dafür sind zuletzt rund 700.000 Menschen auf die Straße gegangen.
Der Begriff „nail biting" beschreibt gut, wie es Millionen proeuropäischen Menschen in Großbritannien seit dem Brexit-Referendum von 2016 geht. Denn Nägelkauen ist angesichts des endlosen Gezerres um den Austritt aus der Europäischen Union (EU) im übertragenen Sinne ein Mittel gewesen, um blankliegende Nerven zu beruhigen. Hilflos mussten Brexit-Gegner ansehen, wie die konservative Premierministerin Theresa May und ihre heillos über die EU-Frage zerstrittene Partei das Land in eine ungewisse Zukunft steuerten.
Von einem Vereinigten Königreich kann eigentlich keine Rede mehr sein. Auch die Labour-Opposition mit dem sozialistischen Doktrinär Jeremy Corbyn an der Spitze fährt in Sachen Europa einen schlingernden Konfrontationskurs zur EU. Nur eine der traditionellen Parteien positioniert sich eindeutig: die Liberal Democrats („LibDems"). Beim kürzlichen Jahreskongress in Brighton rief Parteichef Vince Cable (75), ein früherer Innovationsminister in der konservativ-liberalen Koalition von May-Vorgänger David Cameron, seine Anhänger dazu auf, einen „Kreuzzug" anzuführen. Ziel: „Befreiung Großbritanniens vom Brexit-Alptraum."
Seit Monaten werben die LibDems für den EU-Verbleib. Schlachtruf „Exit for Brexit!" (Raus aus dem Raus). Vorschlag: eine zweite Volksabstimmung. Hauptfiguren: natürlich Cable, daneben der Ex-Parteichef und einstige Vizepremier Nick Clegg (51) sowie Jo Swinson (38), eine Unterhausabgeordnete aus Schottland, die als künftige Vorsitzende gehandelt wird.
„Kreuzzug gegen Brexit-Alptraum"
Unzählige Menschen haben an den bunten Kundgebungen teilgenommen. Zuletzt am 20. Oktober am Londoner „March for a People’s Vote". Er war mit 670.000 Menschen der größte Protestmarsch Großbritanniens seit einem Jahrzehnt. „Wir haben wegen der schieren Menge aufgehört, zu zählen", gab die Londoner Polizei zu. Überall wehten große EU-Flaggen und fantasievolle Transparente – ein Protest nach Cables Geschmack: „Das reiht sich ein in unsere Geschichte des Widerstandes gegen das Establishment."
Die Liberaldemokraten, deren Politik zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Sozialdemokratie schwankt, dirigieren eine ansehnliche Armee von Helfern. Die Zahl der Mitglieder ist nach dem Brexit-Referendum auf über 100.000 gestiegen (FDP: 63.000), dazu kommen 200.000 Online-Unterstützer. Damit sind die LibDems die am schnellsten wachsende Partei in Großbritannien. Auf den ersten Blick hat sich der einzigartig klare proeuropäische Kurs der Liberaldemokraten also ausgezahlt.
Das Problem: Die Fähigkeit, auf der Straße präsent zu sein, spiegelt sich nicht in parlamentarischer Stärke. Bei der vorgezogenen Unterhauswahl 2017 gelang es den LibDems lediglich, zwölf der 650 Sitze zu ergattern. Eine Folge des listenlosen unrepräsentativen Wahlrechts: In jedem Wahlkreis kommt nur der Sieger in den Palast von Westminster („the winner takes it all"). Das war nicht zum ersten Mal fatal für die drittstärkste britische Partei. Im Jahre 2010 erhielten die LibDems trotz 23 Prozent der Stimmen mit 57 Sitzen nur acht Prozent der 650 Mandate. Die Labour Party wiederum bekam im Jahr 2005 mit rund 35 Prozent der Stimmen über 55 Prozent Sitze im Parlament.
Das geht schon fast hundert Jahre so, genauer seit 1922. Damals trat der Sozialpolitiker und Weltkriegspremier David Lloyd George (1863–1945) als letzter liberaler Regierungschef ab. Seine wirtschaftspolitisch zerstrittene Partei erlebte danach ein dunkles Zeitalter. Stets übernahmen seitdem die Konservativen oder die Sozialisten die Regentschaft. Es nützte auch nichts, sich neu zu erfinden. Erst kam 1988 die Fusion der damaligen „Liberal Party" mit der Labour-Abspaltung Social Democrats (SDP) im Jahre 1988, dann die Koalition 2010 bis 2015 mit den Konservativen. Honig konnten die LibDems daraus aber nicht saugen.
Nun jedoch – vom Brexit-Widerstand beflügelt – wittert die Partei mit dem hochflatternden goldenen Freiheitsvogel als Logo den Aufwind. Cable will seine Vereinigung vor dem angekündigten Abtritt 2019 komplett umkrempeln: Aus der Partei soll eine „Bewegung" entstehen. Cables Vorbild ist „En Marche" in Frankreich. Die Bewegung spülte den heutigen Präsidenten Emmanuel Macron überraschend an die Staatsspitze. Angeschaut hat er sich die Liberal Party in Kanada. Sie minderte den Einfluss klassischer Mitglieder und mobilisierte außerparteiliche Unterstützer. Das verhalf dem charismatischen Justin Trudeau (46) zum Sieg.
53 Prozent der Briten wollen in der EU bleiben
Auch die LibDems sollten nun die Nische einer vom Aussterben bedrohten politischen Spezies verlassen – als breit gefächertes buntes Bündnis gegen den Brexit, verkündete Cable beim Sommerparteitag in Brighton. Eine „Verzweiflungstat", kommentierte die eigentlich sympathisierende Tageszeitung „The Guardian". Trotz der Kritik könnte die Rechnung aufgehen.
Millionen Briten sind angesichts der Radikalisierung und Zerstrittenheit bei den regierenden Tories und bei der Labour-Opposition ohne politische Heimat. Laut Umfragen fühlen sich mehr als ein Drittel der Briten nicht mehr repräsentiert. Und 53 Prozent der Briten wollen am liebsten in der Europäischen Union verbleiben. Da könnte eine gemäßigte, reformistisch-liberale und proeuropäische Partei der Mitte – eine „Bewegung für Gemäßigte" (Cable) – genau richtig kommen. Dem Parteichef schwebt vor, das politisch umherirrende „Zentrum" in Großbritannien zu mobilisieren und einzufangen. Er wolle Erneuerer sein, bekräftigt Cable, der einstige Präsident der 400 Jahre alten britischen Handelskammer. Seine Idee ist die Rekrutierung online registrierter Anhänger, die keine Lust haben, feste Mitglieder zu werden, sich aber themenbezogen einbringen wollen.
Die „Supporter", so der Plan, sollen sogar die Parteiführung mitwählen dürfen. Bislang rekrutiert die sich aus der kleinen Unterhausfraktion – eine Bremse für neue Köpfe. Ferner will Cable, dass die Unterstützer als Unabhängige auf liberaldemokratischen Listen für Mandate kandidieren können. Vision: „Keine Protestgruppe, die von draußen an die Tür klopft, sondern eine Massenbewegung mit einer Stimme im Machtzentrum – unserer Parlamentsfraktion."
Der erste Lackmustest für die britischen Liberaldemokraten, die auf nationaler Ebene bei um die zehn Prozent herumkrebsen, kommt schon im Frühling 2019: Bei Kommunalwahlen in England und Nordirland geht es um Sitze in fast 300 Gemeindeparlamenten sowie um fünf direkt gewählte Bürgermeisterposten. Begeisterung wird den Parteimitgliedern nicht fehlen. Doch der stärkste Gegner der LibDems wird noch unbesiegt sein: das diskriminierende Wahlrecht.
Wird Cables vom Widerstand gegen den Brexit angestachelter Kreuzzug für ein offenes und liberales Großbritannien also am gesetzlichen Bollwerk scheitern? Gut möglich. Die Insel bliebe dann – Brexit hin, Brexit her – weiter ein nationalistisches und von zwei unversöhnlichen Lagern geprägtes unvereinigtes Königreich.