Die Brexit-Verhandlungen sind ein zähes Ringen. Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler, weiß: Zu viele Zugeständnisse kann sich die EU nicht erlauben, um keine Nachahmer zu ermuntern. Doch den Exit-Fans in anderen Ländern ist die Lust längst vergangen, den Bürgern und Wählern auf dem Kontinent ohnehin.
Nach dem Brexit-Votum der Briten am 23. Juni 2016 verfielen die einen in einen Schock, die anderen jubelten. Marine Le Pen und Geert Wilders, die Europakritiker aus Frankreich und den Niederlanden, drohten unverhohlen mit Kampagnen für einen eigenen Austritt aus der EU. Sie hofften, nun von einer mutmaßlichen Trendwende bei der Stimmung der Bürger profitieren zu können. Gab es eine solche Trendwende? Hat sich die Haltung gegenüber Europa in den vergangenen zwei Jahren gedreht?
Es ist seither sehr still geworden um die Austrittsfantasten aus den anderen Mitgliedstaaten. Das hat einen wesentlichen Grund: Die Begeisterung des Wahlvolkes für einen EU-Austritt hält sich in Grenzen. Selbst in Großbritannien scheint eine, wenn auch knappe, Mehrheit heute den beschlossenen Austritt abzulehnen. Das gilt für die Staaten des Kontinents noch viel mehr.
Die Europa-Fans machten mobil
Es scheint vielmehr so zu sein, dass die restlichen 27 Mitglieder nun sogar noch zusammenrücken – wie Wartende an der Bushaltestelle bei Herbstregen. Viele „Pro-Europäer" haben in den vergangenen zwei Jahren ihre Stimme erhoben: Da war vor allem die Wahl von Emmanuel Macron im Frühjahr 2017 zum Staatspräsidenten Frankreichs mit einer expliziten europafreundlichen Agenda. Bürgerinitiativen und andere Organisationen werben für Europa, mit Argumenten und Emotionen: Vor zwei Jahren brachte der „Pulse of Europe" jeden Sonntag viele Tausende auf die Straße, inzwischen versucht sich die Bewegung als Verein zu etablieren. Schon seit 1949 gibt es in Deutschland die „Europäische Bewegung" und seit 1993 die „Europa-Union Deutschland", eher elitäre Organisationen, in denen sich Politiker verschiedener Parteien engagieren. Es gibt europaweite Netzwerke von Managern, Wissenschaftlern und Thinktanks, die wohl auch etwas der Karriere nachhelfen sollen, wie „Friends of Europe", und es gibt spontanere Initiativen wie „Stand up for Europe" und „Why Europe" (ohne Fragezeichen!). Sie alle tun viel und sie werden dabei auch von Unternehmern unterstützt, die ein starkes Interesse an einer tieferen EU-Integration haben.
Was denken aber die Europäer über Europa? Für 49 Prozent der EU-Bürger sei die EU „irrelevant", wie eine Umfrage im Auftrag von „Friends of Europe" Anfang Oktober ergeben hat. 64 Prozent sind nicht überzeugt, dass ihr Leben ohne die EU schlechter wäre – sie wären also wohl potenziell für eine Austritt-Kampagne zugänglich. Andererseits sagen in der gleichen Umfrage 90 Prozent, die EU sollte „mehr tun als nur Binnenmarkt". Man könnte die Ergebnisse so deuten: Grundsätzlich findet eine große Mehrheit die EU ganz gut, aber diese Menschen wissen nicht, dass die EU erheblichen Einfluss auf ihr Leben hat – ein offensichtlicher Irrtum.
Sollte man besser informieren? Was kann man tun, wenn die Menschen kritisch gegenüber der EU eingestellt sind – und sollte man überhaupt etwas dagegen tun? „Man muss deutlich trennen: zwischen dem Interesse für Europa und der Zustimmung zur Europäischen Union", sagt Ökonom Clemens Fuest, Direktor des Münchener Ifo-Instituts. „Jeder hat natürlich das gute Recht, kritisch zur EU zu stehen; aber er sollte für sein Urteil auch ausreichend über Europa informiert sein."
„Kombi-Identität": Man ist Franzose und Europäer
Für eine Studie gemeinsam mit dem Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) haben sich Ifo-Ökonomen die regelmäßigen Umfragen der EU-Kommission angesehen, das sogenannten Euro-Barometer. Es befragt seit Jahren viele Tausende Europäer, ob sie sich primär als Europäer oder primär als Deutsche oder Franzosen et cetera fühlen. Auch Kombi-Antworten sind erlaubt. Und das Ergebnis ist spannend: „Seit Jahren nimmt die rein nationale Identität ab, und die Kombi- oder Hybrid-Identität mit Betonung auf der nationalen Identität nimmt deutlich zu", sagt Co-Autor Friedrich Heinemann vom ZEW. „Jüngere, gut qualifizierte Menschen sind tendenziell europaoffener als ältere oder ärmere Menschen." Logisch daher auch, dass Studenten die größten EU-Freunde sind. Die Wissenschaftler schlagen daher vor, die Europa-Identität zu fördern, mit Austauschprogrammen für ältere Menschen, mit EU-Bürgerversammlungen, gemeinsamen EU-Konsulaten oder einem öffentlich-rechtlichen EU-Fernsehsender. Das Fazit ihrer Studie: „Eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Europa benötigt ein Mindestmaß an wechselseitigem Vertrauen, das sich maßgeblich auf ein Gefühl der gemeinsamen europäischen Zugehörigkeit stützen muss."
Tatsächlich zeigen die Euro-Barometer-Umfragen, dass in einer Reihe von Ländern sich eine Mehrheit der Menschen sehr mit Europa verbunden fühlt; dazu zählen nicht nur Deutschland, Dänemark und Schweden, sondern auch Polen und Ungarn. Es gibt auch einen tieferen wirtschaftlichen Grund dafür, warum in den Ländern auf dem Kontinent die europäische Identität viel stärker ist als auf der Insel. Sie sind wirtschaftlich viel enger verflochten. Großbritannien hat in den letzten 20 Jahren viel Industrie verloren: Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes auf der Insel sank von 16 Prozent im Jahr 1993 auf zuletzt etwa zehn Prozent. „Großbritannien profitierte viel weniger von der kontinentalen Integration und spielt daher heute eine sehr viel geringere Rolle in den europäischen Wertschöpfungsketten", schreiben Ökonomen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer kürzlich erschienenen Studie. Vielleicht kommt die britische Wirtschaft ja ganz gut außerhalb der EU zurecht. Aber das gilt offensichtlich nicht für die Industrien auf dem Kontinent. Es scheint also, dass die Menschen diese wirtschaftlichen Abhängigkeiten auch emotional verinnerlicht haben.
„Viele derjenigen, die seinerzeit das Brexit-Votum bejubelt hatten, konnten sich nicht vorstellen, wie kompliziert die Welt danach werden würde. Den EU-Skeptikern anderer Länder ist die Lust am Nachahmen vergangen", sagt Josef Janning vom Thinktank European Council on Foreign Relations. „Die neue Strategie der Europaskeptiker, etwa in Italien, ist daher: Drin bleiben, aber nach eigenen Regeln."
Nur in einem Land der EU ist die EU-Stimmung weiter auf dem Tiefpunkt: in Griechenland. Hier könnte der Austritt laut den Euro-Barometer-Umfragen derzeit tatsächlich eine Mehrheit finden. Allerdings dürfte es sich dabei um die Kollateralschäden der schweren Wirtschaftskrise handeln, die das Land seit 2010 durchgemacht hat. Für die Härte der Auswirkungen machen viele Griechen die EU verantwortlich. Dass den Griechen in der aktuellen Lage allerdings ein EU-Austritt helfen würde, diese These dürfte auch in Griechenland kaum überzeugen, wenn es hart auf hart käme.