Wie wird sich die EU weiterentwickeln, wenn Großbritannien fehlt? Driften die Staaten auseinander oder werden sie nach dem Schock eher zusammenrücken? Alle sind sich einig, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Prof. Michael Zürn sieht einen Ausweg in mehr politischem Wettbewerb und mehr Mitbestimmung von unten.
Herr Prof. Zürn, wir haben noch fünf Monate bis zum Brexit am 29. März 2019. Können Sie sich vorstellen, was dann passiert?
Eine Prognose ist da ziemlich schwierig. Premierministerin May versucht, einen handhabbaren und pragmatischen Kompromiss zustande zu bringen. Aber sie wird bedrängt von den immer noch vorhandenen proeuropäischen Anti-Brexit-Kräften einerseits und den Befürwortern eines radikalen Brexits andererseits, die sich vom Brexit einen ökonomischen Gewinn versprochen haben. In dem Maße, in dem das nicht realisierbar ist, werden sie natürlich gegen den Kompromiss schießen und vom Scheitern sprechen. Und da ist Boris Johnson, der unbedingt Theresa May ablösen will.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Gespräche zwischen Großbritannien und der EU noch scheitern?
Mein Eindruck ist, dass die Gespräche relativ weit sind, also dass ein Kompromisspapier zustande kommt. Ob das vom britischen Parlament so akzeptiert wird, ist eine ganz andere Frage. Der Knackpunkt ist die Grenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland.
Welche Vorteile versprechen sich denn die Befürworter vom Brexit?
Der Brexit steht im Zusammenhang mit einer Konfliktlinie, die sich in vielen europäischen Staaten und auch in den USA aufgetan hat: Die einen sind für offene Grenzen, eine liberale Handelspolitik, und können sich vorstellen, nationale Kompetenzen auf Institutionen außerhalb des Nationalstaats zu übertragen. Auf der anderen Seite steht eine politische Bewegung, die für die strikte Kontrolle von Grenzen eintritt, die nicht bereit ist, Kompetenzen abzugeben, die auf die Souveränität der Nationalstaaten pocht und die sich dabei gern autoritär auf die „Meinung des Volkes" beruft. Genau diese Konfliktlinie zieht sich auch durch Großbritannien und spiegelt sich in der Auseinandersetzung über den Brexit wieder.
Aber ein Vorteil ist doch, dass Großbritannien die EU-Beiträge spart …
Da wurden eine Menge Versprechungen gemacht, die sich alle nicht halten lassen. Die Mehrheit der Ökonomen geht davon aus, dass der Austritt Großbritanniens dem Land schadet. Vermutlich werden im Falle eines harten Brexits Unternehmenssteuern weiter abgebaut werden, was den britischen Haushalt belasten würde. Womöglich müssen sogar die Einkommenssteuern erhöht werden – also am Ende stehen die unteren sozialen Schichten, die sich vom Brexit eine Besserung erhofft haben, noch schlechter da.
Und wenn die Briten eine Dumping-Politik beginnen, also auf niedrige Steuern als Anreiz für Firmenansiedlungen, keine Bindung an die komplizierten EU-Standards, Dumpinglöhne und Billigproduktion setzen?
Das steht in der Tat zu befürchten. Die Folge wäre eine weiter zunehmende Ungleichheit in Großbritannien. Eine solche Industriepolitik träfe die Briten selbst am meisten. Die EU will jedenfalls verhindern, dass in einer möglichen Zollunion die EU-Regeln außer Kraft gesetzt werden. Das wäre der Preis für die dann gewählten Handelsvorteile. Aber am Ende müssen die Briten das selbst entscheiden.
Glauben Sie an einen harten Brexit, also ohne Zollunion, Freihandelszone und Übergangsfrist?
Den wird die Mehrheit der Briten nicht wollen – hätten sie die Wahl zwischen hartem, weichen und gar keinem Brexit, hätte der harte Brexit die geringste Unterstützung.
Es gibt ja verschiedene Modelle für Staaten, die mit der EU verbunden sind, aber nicht dazu gehören: etwa Norwegen oder die Schweiz. Kommt das für England in Frage?
Norwegen ist das beste „EU-Land" überhaupt, was die Umsetzung aller Richtlinien und die Finanzierung der EU betrifft. Und das, ohne eine politische Stimme zu haben. Das wäre für die Briten unmöglich. Die Schweiz hat einen ähnlichen Status, aber eine ganze Reihe von Privilegien, die die EU nicht nochmals vergeben möchte.
Wie werden die Osteuropäer reagieren, wenn Großbritannien austritt?
Wir haben in Polen eine große liberal-demokratische Opposition, die für die EU eintritt. In Ungarn fehlt sie. Aber ich glaube auch nicht, dass eine entsprechende Abstimmung wie in Großbritannien etwa in Polen eine Mehrheit für den Austritt fände. Für einen tatsächlichen aktiven Austritt müssen zwei Dinge zusammenkommen: Euroskeptizismus und Nettobeitragszahlungen. Nettoempfängerländer haben es viel schwerer, für einen EU-Austritt zu mobilisieren.
Was passiert nach dem Brexit: Wächst die EU zusammen oder driftet sie auseinander?
Das Projekt EU ist kein Selbstläufer, bei dem alles immer mehr zusammenwächst und sich immer weiter und tiefer integriert. Die EU steht in einem Wettbewerb. Sie muss beweisen, dass sie leistungsfähiger, erfolgreicher, im Endeffekt sogar demokratischer ist als das Modell Nationalstaat. Das heißt, wir brauchen keine abgestuften Zwischen- und Nebenmitgliedschaften, die EU muss sich klar abgrenzen zwischen innen und außen. Das führt dazu, dass die EU härter verhandelt und einige der Privilegien, die sie anderen zugestanden hat, Großbritannien nicht geben wird.
Also wird der britische Brexit kein Modell werden, das vielleicht Nachahmer findet bei anderen Staaten, die auch halb raus wollen?
Das will die EU auf keinen Fall, gerade nicht, wenn es um die skandinavischen Länder geht. Einen Status wie den der Schweiz wird es für Großbritannien nicht
und schon gar nicht für andere Länder geben.
Aber kann die EU so weitermachen wie bisher?
Nein, nach dem Austritt der Briten wird sich das Bild ändern. Zwar gibt es dann immer noch eine ganz klare Konfliktlinie zwischen den wohlhabenderen westlichen und den von autoritären Populisten regierten östlichen Ländern und eine, die den Norden vom Süden teilt. Aber erstens wird die Führungskraft Frankreichs und Deutschlands zunehmen und damit auch die Gefahr, dass in anderen Ländern die EU als ein hegemoniales Projekt Deutschlands betrachtet wird. Zweitens steht weniger Geld im Haushalt der EU zur Verfügung, weil Großbritannien als Nettozahler wegfällt. Das führt zu Sparmaßnahmen und im Endeffekt zu Einbußen bei den Förderprojekten. Drittens – und das ist das Positive – haben die Alarmglocken Brüssel aufgeweckt und weite Teile der EU-Bürokratie sehen mittlerweile, dass ein „Weiter so" nicht geht. Die EU ist kein Fahrrad, das immer weiterlaufen muss, weil es sonst stehen bleibt und umfällt, wie Jacques Delors es mal beschrieben hat. Man hat gemerkt, dass an der einen oder anderen Stelle Zurückhaltung und Maßhalten besser ist. Und dafür zu sorgen, dass die Zustimmung in den einzelnen Ländern vorhanden ist.
Also mehr Demokratie?
Die Bevölkerung hätte eine echte Wahl, wenn zum Beispiel mehrere Spitzenkandidaten als Präsident der Europäischen Kommission kandidieren würden, die klar unterscheidbare politische Alternativen vertreten. Denn wie war es bisher? Wenn man mit der Politik der EU etwa gegenüber Griechenland nicht zufrieden war, gab es doch nur die Möglichkeit, die EU insgesamt abzulehnen oder sich loyal zu zeigen und die Unzufriedenheit mit der EU-Politik zu schlucken. Es muss politischen Wettbewerb in der EU geben.
Wie stellen Sie sich das vor?
Man wird das parlamentarische System der Nationalstaaten nicht völlig nachbilden können. Aber es sollte nicht mehr so sein, dass man den Eindruck hat, die einigen sich auf etwas in Brüssel und zwingen das allen anderen auf. Es muss Möglichkeiten geben innerhalb des EU-Systems, dass unterschiedliche Ansätze miteinander in Konkurrenz treten können.
Das geschieht ja schon im Europäischen Parlament ...
Ja, aber Wahlen bleiben folgenlos, wenn man nicht weiß, was man programmatisch eigentlich wählt, weil sich die Parteien im EU-Parlament aus ganz unterschiedlichen Strömungen zusammensetzen. Außerdem gibt es viele Entscheidungen, die am Parlament vorbei getroffen werden. Dass aber die Regierungschefs sich abends treffen, die Nacht über tagen und am Morgen mit einer bindenden Entscheidung herauskommen – das sollte aufhören. Es muss auch möglich sein, zuvor in den einzelnen Staaten zu diskutieren, was in Brüssel beschlossen werden soll. Wir können nicht immer mehr Kompetenzen auf die EU übertragen, ohne dass die Bevölkerung die Möglichkeit einer Mitbestimmung in unterschiedlichen Formen hat.
Woran denken Sie dabei?
Da ist institutionelle Fantasie gefragt. Vielleicht europaweite Referenden, neue Formen des Debattierens in unterschiedlichen Foren, andere Kommunikationswege zwischen den Institutionen.
Welche Rolle spielen charismatische Politiker wie Macron?
Macron hat das Demokratiedefizit erkannt, wenn er eine positive Politisierung der EU fordert und auf mehr Wettbewerb, mehr Mitbestimmung setzt. Merkel hingegen tendiert dazu, die EU der politischen Öffentlichkeit und der politischen Auseinandersetzung entziehen zu wollen. Das ist kurzfristig im Sinne der Krisenbewältigung verständlich, aber langfristig schädlich.
In Deutschland ist wenig Interesse am Brexit zu spüren. Woran liegt das?
Das kann man auch positiv sehen. Die Öffentlichkeit reagiert halt gelassen auf das, was die Briten machen, weil die schon immer anders waren als andere. Man will ja befreundet bleiben.