Der Tag X rückt unerbittlich näher. Die Stimmen für ein zweites Referendum werden immer lauter. Die Argumente dafür und dagegen wiegen schwer.
Pro
Neues Referendum? Ja klar.
ein, es geht nicht darum, so oft abstimmen zu lassen, bis das Ergebnis passt. Mal ganz abgesehen davon, wer eigentlich festlegen würde, was ein „passendes Ergebnis" wäre. Es geht auch nicht um eine „zweite Chance", als müssten sich die Briten für ein Vergehen rehabilitieren.
Für ein erneutes Referendum sprechen gewichtigere Argumente.
Demokratie ist einst von den Griechen erfunden worden als eine Methode, mit der es gelingen kann, eine unliebsame Herrschaft ohne Blutvergießen abzulösen. Nicht umsonst werden heutzutage in funktionierenden Demokratien Menschen in regelmäßigen Abständen zu Wahlen aufgerufen, in denen sie auch darüber abstimmen können, ob sie mit der bisherigen Politik zufrieden sind oder ob sie eine andere Richtung einschlagen möchten. Wenn dieses Prinzip schon routinemäßig sinnvoll ist, dann müsste das umso mehr für derart grundlegende Fragen gelten, wie sie der Brexit nun einmal als historisch einzigartiges Ereignis darstellt.
Möglicherweise schwerwiegender ist das Argument der Lernfähigkeit.
Glücklicherweise können Menschen klüger werden, wenn sie bislang nicht bedachte Argumente ernst nehmen und vor diesem Hintergrund ihre frühere Entscheidung noch einmal überprüfen. Das muss nicht zwingend dazu führen, das frühere Urteil zu revidieren, es kann auch zu einer Bestätigung führen.
Gerade auch diese Möglichkeit ist ein zusätzliches Argument für ein erneutes Votum. Befürworter, Gegner, und alle, die sich irgendwo dazwischen bewegen, sowohl auf der Insel selbst wie auch auf dem Kontinent, versuchen zwar, mit dem Brexit-Votum umzugehen, im Hintergrund schwingt aber nach wie vor mit, dass es ja gar nicht so wirklich ernst gemeint war, dass es nur unter dem Eindruck populistischer Märchen und illusionärer Versprechen zustande gekommen sei. Das ist gewiss keine Analyse, die völlig daneben liegt. Durch die zwischenzeitliche Ernüchterung und einem realistischeren Blick auf die Folgen ist ein erneutes Referendum angezeigt.
Und zwar ein grundsätzliches, nicht bloß eines über die bis dahin ausgehandelten Vereinbarungen.
Erstens, weil es wirklich um Grundsätzliches und damit um weit mehr als nur Tausende Detailregelungen neuer Verträge geht. Zweitens, weil nach zwei Jahren die rein populistischen Luftballons geplatzt sind. Drittens – und das wird im bloßen Vertragspoker ausgeblendet – gibt die globale Entwicklung nicht nur ausreichend Anlass, sie zwingt geradezu zu einer aktuellen Bewertung.
Die vergangenen beiden Jahre waren für alle Beteiligten ein zumeist schmerzhafter Lernprozess. Für die Kontinentaleuropäer, die lernen mussten, dass solche Voten eben nicht am Schluss wunderbar und wie von Geisterhand doch irgendwie für Europa ausgehen. Für die Briten, die sich von illusionären Hoffnungen verabschieden mussten. Und für alle zusammen die Erkenntnis: Europa, die EU, sind keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern müssen immer wieder neu errungen werden. Wer das auf dem Kontinent immer wieder betont – und das tun inzwischen so gut wie fast alle – der wird auch den Briten ein neues Referendum zubilligen müssen. Dazu gehört dann aber auch, dass es danach keine Ausreden mehr geben darf. Reicht es erneut für Brexit, dann ist Brexit, ohne Rosinen oder sonst was. Reicht es für EU, dann ist EU, mit allen Freizügigkeiten, mit Vorteilen und Pflichten, ohne Briten-Rabatt.
Contra
Neues Referendum? No thank you.
s wird kein zweites Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU geben. Und nein, dies zu schreiben bedeutet nicht, dass wir Europäer beleidigt sind, weil Großbritannien von Anfang an kein vollwertiges Mitglied sein wollte, Sonderregelungen immer und immer wieder durchsetzte und sich dann von politischen Betrügern wie Nigel Farage oder Boris Johnson an der Nase herumführen ließ.
Gut, vielleicht ein bisschen. Verhandlungen mit Großbritannien kosteten die EU-Politiker immer Nerven. Wir jedoch wollten, wir brauchten Großbritannien in der Europäischen Union, aus historischen Gründen, aus wirtschaftlichen Gründen.
Aber ein zweites Referendum über einen Austritt würde grundlegende demokratische Prinzipien verachten. In einem Gastbeitrag für den konservativen britischen „Telegraph" legte Premierministerin Theresa May dar, dass es keinen Kompromiss für ihren aktuellen Brexit-Plan gäbe, der nicht im nationalen Interesse Großbritanniens stünde. Ein zweites Referendum wäre „Verrat" an der Demokratie. Dem hält der britische „Independant" entgegen, ein zweites Referendum nicht abzuhalten wäre Verrat, weil die Briten jetzt erst genau wüssten, was auf sie zukommt. Sogar ehemalige Spitzenpolitiker wie Ex-Premier Tony Blair und Ex-Vizepremier Nick Clegg bitten um mehr Zeit für ihr Land, um die interne Debatte weiterzuführen. Und das ist ihr Ernst.
Seit Januar 2013, ganze drei Jahre lang, lag das Wort „Brexit" auf dem Tisch, seit Premier David Cameron es unter Druck von EU-Skeptikern wie Nigel Farage und seiner UKIP-Partei dort abgelegt hatte. Drei Jahre Zeit, um über das Referendum zu diskutieren – was in der britischen Öffentlichkeit auch getan wurde, offensichtlich aber nicht eindringlich genug über die Konsequenzen: Das Pfund verliert an Wert, Jobs gehen verloren oder werden in die EU verlagert, die Wirtschaft verliert an Schwung, auch durch Zölle und Grenzkontrollen. Ganz zu schweigen davon, dass Großbritannien international an Gewicht verliert, wenn das Land ohne Rückendeckung der EU auftritt. Und dennoch, wirklich an den Brexit geglaubt hat niemand, nicht einmal Nigel Farage am Vorabend des Referendums.
Am 24. Juni rieben sich die Briten und der Rest der Welt verwundert die Augen, als das eingetreten war, was für unmöglich gehalten wurde. 51 Prozent hatten mit „Raus aus der EU" gestimmt. Cameron hatte die EU-Mitgliedschaft aus politischen Gründen verjubelt, er musste zurücktreten. Und es wurde deutlich, mit welch dreisten Lügen die Brexit-Befürworter agiert hatten.
Doch heißt dies nicht, dass es nun ein zweites Referendum über den Austritt geben muss, weil den Briten das Ergebnis nicht passt oder sie es sich anders überlegt haben. Die Möglichkeit, sich über die Argumente pro und contra zu informieren, hatten beide Seiten, die „Remainer" (Pro-EU) wie die „Leaver", lange genug. Wer sich „verwählt" hat, kann dies durchaus ändern – bei der nächsten Wahl. Parteien mit pro-europäischem Kurs wie die Liberaldemokraten oder neue Parteien wie „Renew Britain" stehen dafür bereit. In einem zweiten Referendum kann es jetzt höchstens darum gehen, die Umsetzung des Brexit-Deals zwischen London und Brüssel vom Wähler prüfen zu lassen – dann aber, innerhalb einer erweiteren Übergangsfrist, nachzubessern, wenn es diesmal ein „No thank you" geben sollte. Ein Zurück in die EU wird es damit nicht geben.