Herfried Münkler (67) ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Er gilt als der führende deutsche Kriegsforscher. Münkler hat sich für sein Buch „Der Große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918" ausführlich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt und zieht Parallelen zwischen den damaligen Geschehnissen und der aktuellen politischen Situation in Europa.
Herr Professor Münkler, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass viele der Herausforderungen, die vor und nach 1914 das Handeln der Politiker und die Erwartungen der Bürger bestimmt haben, zwischenzeitlich zurückgekehrt seien und auf die eine oder andere Weise erneut die europäische und globale Politik bestimmen würden. Was genau meinen Sie damit?
Wir tendieren dazu, die Folgen des Ersten Weltkriegs zu unterschätzen, weil wir diese im Wesentlichen nur mit einem der Pariser Friedensverträge identifizieren, dem von Versailles. Doch es gab eben auch noch vier weitere Verträge, die von Saint-Germain, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sèvres. Darin wurde die Auflösung der multi-ethnischen und multi-konfessionellen Großreiche in Mittel- und Osteuropa sowie im Nahen Osten ratifiziert: der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn, des russischen Zarenreichs sowie des Osmanischen Reiches. Daraus ist jedoch eine alles andere als stabile politische Ordnung entstanden, denn die sogenannten Nationalstaaten hatten unscharfe, einander überlappende Grenzen und führten immer wieder Kriege gegeneinander. Die Nachkriegsordnung war in vieler Hinsicht unbefriedigend.
Inwiefern wirkt sich das bis heute aus?
Der Erste Weltkrieg hat eine Spur der Unordnung hinterlassen, die uns erstaunlicherweise auch hundert Jahre danach noch beschäftigt. Das ist eine der großen sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas. Vom Kaspischen Meer bis zum Westbalkan hat der Erste Weltkrieg eine Reihe von politischen Gebilden hinterlassen, in denen entweder unterschiedliche Volksgruppen zusammengehalten wurden, die nicht zusammenleben wollen, oder die so klein sind, dass sie wirtschaftlich nicht überleben können. Auch die Staaten im Nahen Osten haben eigentlich nie die Qualität von Nationalstaaten erreicht, sondern entsprechen eher Clan- oder Stammeskonföderationen. Es ist hier kein Raum des Friedens und der Prosperität entstanden, sondern einer der Armut und politischen Instabilität. Das ist ein guter Nährboden für Gewaltakteure, für Flucht und Migration. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es vor diesem Hintergrund die richtige Entscheidung war, dass Deutschland 2015 seine Grenze für die Flüchtlinge nicht geschlossen hat.
Warum?
Weil sich ansonsten auf der Balkanroute in diesem notorisch instabilen, ethnisch und religiös zerfaserten Raum 500.000 Menschen gestaut hätten, was zum organisatorischen Kollaps der Staaten und zu ethnisch-religiös motivierten Gewaltausbrüchen hätte führen können. Das Gebiet ist nach wie vor die weiche Südostflanke der Europäischen Union, in welche die Europäer sehr viel investieren müssen. Erstens, um die Ursachen für Migration zu bekämpfen. Zweitens, um zu verhindern, dass Gewaltakteure das Heft des Handelns an sich ziehen. Leider ist diese Erkenntnis bei vielen Menschen in Deutschland nicht angekommen. Sie neigen dazu, zu glauben, dass das Problem sich von selbst löst, wenn man es von sich abhält.
Sollte es nicht eine der Lehren des Ersten Weltkriegs sein, dass man die Peripherie nicht vernachlässigen darf: Südosteuropa, die Ukraine, den Maghreb? Schließlich wurde der Krieg durch einen Konflikt auf dem Balkan ausgelöst – und nicht originär durch eine Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich.
Das stimmt. Allerdings ist der Erste Weltkrieg relativ schnell primär auf die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Staaten reduziert worden. Entsprechend wurde die deutsch-französische Aussöhnung zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle und später deren Reinszenierung zwischen Helmut Kohl und François Mitterand auch als Bewältigung dieses Problems gesehen. Natürlich haben in Frankreich die großen militärischen Kampfhandlungen stattgefunden. Doch man darf bei dieser Betrachtung nicht den Brandherd auf dem Balkan außer Acht lassen, der den Feuersturm überhaupt erst ausgelöst hat.
Wer war aus Ihrer Sicht verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs?
Es waren mehrere Länder. Die deutsche Seite hat den Österreichern den Rücken gestärkt mit dem berüchtigten Blankoscheck; insofern trägt sie Verantwortung am Kriegsausbruch. Aber die russische Seite hat wiederum den Serben und die Franzosen haben den Russen den Rücken gestärkt – auch sie tragen somit eine Verantwortung. Man kann sagen, dass zumindest diese vier Mächte kurzsichtig und ungeschickt agiert haben. Durch die Bündnismechanismen ist daraus etwas entstanden, das nicht mehr beherrschbar war. Es war eine Mischung aus Sorglosigkeit und Angst, die letztlich zum Krieg geführt hat. Das Deutsche Reich hat dabei zunächst den Fehler gemacht, auf Wertebindungen in der Außenpolitik zu vertrauen: Sie haben geglaubt, dass Frankreich mit seiner republikanisch-revolutionären Tradition und das autokratisch-autoritäre Russland niemals ein Bündnis miteinander eingehen würden. Aber schon damals galt: Geopolitik schlägt Wertebindung.
War die deutsche Angst vor einer Einkreisung berechtigt?
Letztlich ist es egal, ob die Sorge historisch begründet war. Fakt ist: Die Deutschen fühlten sich eingekreist und haben aus dieser Obsession heraus gehandelt. Ähnlich lässt sich in unserer Gegenwart auch das Vorgehen Russlands in der Ukraine erklären. In Russland ist die Erinnerung noch präsent, dass man einmal eine große Ostseemacht war. Das gilt heute längst nicht mehr so, und das sorgt in Russland dafür, dass man am Schwarzen Meer auf keinen Fall nachgeben kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es wirklich eine Strategie des Westens gab, Russland von beiden Binnenmeeren wegzudrängen. Der entscheidende Punkt ist, dass man es in Russland so wahrgenommen hat. Das ist also eine weitere Sache, die wir aus dem Ersten Weltkrieg lernen können: Eine kluge Außenpolitik sieht sich selbst durch die Augen des Anderen, um zu begreifen, welche Handlungsoptionen einem mit welchen Folgen zur Verfügung stehen.
Wenn das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich 1914 ein anderes gewesen wäre, dann wäre es wahrscheinlich gelungen, die Auseinandersetzungen auf dem Balkan auf diesen Raum zu begrenzen. Wahrscheinlich hätten die Franzosen dann mithilfe der Russen den Serben gut zugeredet und die Deutschen den Österreichern. Deutschland und Frankreich bilden das Kraftzentrum Mitteleuropas, daran hat sich bis heute nichts geändert. Es lässt sich gut beobachten, dass das Europa-Projekt einigermaßen vorankommt, wenn Paris und Berlin zusammenarbeiten – und dass es stockt, wenn sie es nicht tun. Erst als Frankreich unter Nicolas Sarkozy und François Hollande diese Rolle nicht mehr ausgefüllt und keine politischen Initiativen mehr gesetzt hat, ist Deutschland in eine Rolle als Anführer Europas hineingerutscht, die es eigentlich nie haben wollte.
Deutschland übernimmt heute Verantwortung für die Sicherheit Europas. Kannte man eine solche Verantwortung auch 1914 schon?
Durchaus. Bismarck hatte zum Beispiel eine ziemlich gute Vorstellung davon, als er unmittelbar nach der Reichsgründung zum Ausdruck brachte, dass das Reich saturiert sei und keineswegs ein aggressiver, gebietshungriger Staat. Er hat das von ihm gegründete Deutsche Reich auch ausdrücklich nicht in die Tradition des mittelalterlichen Reiches gestellt, um damit die Expansionsängste bei den europäischen Großmächten zu zerstreuen. Leider ist man von dieser klugen politischen Linie später abgekommen, als Bismarck abgelöst wurde. Der Kaiser hat anschließend ein bisschen infantil herumbramarbasiert. Die politische Führung nach Bismarck hat nicht den Weitblick gehabt, mit dieser Verantwortung angemessen umzugehen.
In Deutschland ist der Erste Weltkrieg im öffentlichen Diskurs weit weniger präsent als der Zweite Weltkrieg. Dabei gibt es die These, dass der Erste Weltkrieg beziehungsweise der Versailler Vertrag den Aufstieg Adolf Hitlers überhaupt erst möglich gemacht haben, was dann in den Zweiten Weltkrieg mündete. Wäre die Geschichte ohne den Ersten Weltkrieg anders verlaufen?
Nicht zu Unrecht nennt man den Ersten Weltkrieg auch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Ohne den Krieg wäre die Geschichte sicherlich anders verlaufen. Auch wenn ich nicht glaube, dass es einen zwingenden Verlauf vom Versailler Vertrag zum Aufstieg der NSDAP und zum Zweiten Weltkrieg gab. Natürlich war der Groll gegen Versailles ein wichtiger Faktor, aber letztendlich war der Aufstieg der NSDAP ein Resultat der Wirtschaftskrise von 1929. Wenn wir uns die wegdenken oder wenn man damals eine klügere Wirtschaftspolitik betrieben hätte, dann kann man sich durchaus vorstellen, dass die Weimarer Republik fortbestanden hätte. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein wunderbares Exerzierfeld, um taktische und strategische Fehler in der Politik zu beobachten. Aus Sicht eines Politikwissenschaftlers ist die Geschichte des Ersten Weltkriegs da sehr viel aufschlussreicher als die des Zweiten Weltkriegs.
Hätte der Krieg früher enden können als erst 1918?
Das ist eine spannende Frage. Erich von Falkenhayn, Chef des deutschen Generalstabs, hat bereits im November 1914 erkannt, dass nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans nur noch eine Partie Remis möglich ist. Nur musste man die andere Seite davon überzeugen, in eine solche Partie Remis einzuwilligen. Aus deutscher Sicht hieß das, den Gegnern an beiden Fronten harte Schläge zu versetzen, in der Hoffnung, dass vielleicht ein Land vorzeitig ausscheidet. Das Problem dabei war, der deutschen Bevölkerung nur schwer vermitteln zu können, dass man zwar einen Sieg nach dem anderen einfährt und militärisch weit im Feindesland steht, dann aber in Verhandlungen einwilligt, die im Prinzip den vorherigen Status quo bestätigen. Diese Quadratur des Kreises hat Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg nicht hinbekommen. Die Deutschen sind gewisserweise in eine Falle hineingetappt, aus der sie nicht mehr herauskamen.