Ausgerechnet Neukölln. Ausgerechnet „Berliner Szenerestaurant 2018" im Szenebezirk der Stadt. Warum nicht? Die waschechten Berliner Jungs Martin Müller und Kristof Mulack zeigen in ihrer ausgezeichneten „Tisk Speisekneipe" im Rollbergkiez, wie Berliner Küche im 21. Jahrhundert aussehen kann.
Hätten sich Martin Müller und Kristof Mulack nicht für eine schlichte Wortmarke mit dem Namen ihrer „Tisk Speisekneipe" entschieden, wäre klar, was im Logo ihres Lokals aufzutauchen hätte: ein Broiler, dem ein Steakmesser im Rücken steckt. Das Brathähnchen könnte schon ein gutes halbes Jahr nach der Eröffnung als typisches „Tisk"-Gericht gelten. Bei unserem Besuch standen jedenfalls gleich mehrere martialisch angerichtete Flattermänner auf den Nachbartischen. So ein Vogel „im Janzen" macht aber im Verbund mit „Mischjemüse" sowie mit „Kartoffelpü", Geflügeljus und gechipster Hühnerhaut richtig was her. Für zwei Personen jedacht, pardon: gedacht, reichen Broiler und Beilagen nach Vorspeisen allemal für uns zu dritt. Der Broiler hat eine etwas papierenere Haut als ein häuslich zubereitetes Grillhähnchen. Das liegt an der gastronomiekompatiblen Zubereitung mit Marinieren und Sous-Vide-Garen am Vortag und bräunendem Finish im Grillschrank erst nach der Bestellung.
Letzteres setzt uns beim Öffnen der Türen immer wieder appetitanregenden Düften aus, die durch den ganzen Raum, aber hoffentlich nicht in Haar und Kleidung allzu sehr hineinziehen. Opfer im Namen des guten Geschmacks müssen erbracht werden! Beispielsweise ein kurzer, erfrischender Marsch abseits der Szene-Rennstrecken die Neckarstraße hinauf. Dorthin, wo man in einer Wohnstraße eher eine altertümliche Eckkneipe als das amtierende „Szenerestaurant 2018" vermuten würde.
Eine solche war das „Tisk", bevor die Betreiber Müller und Mulack gemeinsam mit den Gestaltern Clara Walter und Ralf Danke das bessere, jetztzeitige Ich aus dem Raum herauskitzelten. Uns soll es Recht sein. Wir tauschen gern Rauchschwaden, vergilbte Gardinen und Herrengedeck gegen einladende Helle, den geschweiften Tresen, grüne Fliesen und neuzeitlich interpretierte Berliner Küche. Es wird „jebalinat" und mit dem Mythos Eckkneipe gespielt, was das Zeug hält. Wer, wenn nicht die eingeborenen Berliner Jungs Kristof Mulack und Martin Müller dürfte das sonst? Müller stammt aus der Broiler-Hälfte, Mulack wuchs im Brathähnchen-Sektor der Stadt auf. Jahrgang 1985 der eine, Jahrgang ’87 der andere. Da bleibt genügend Raum für wohlige Erinnerungen an die Berliner Küche von früher, aber ebenso genügend Distanz, die von Verklärung abhält. „Wir sind mit diesen Speisen aufgewachsen", sagt Martin Müller. „Wir kennen den Geschmack, aber müssen ihn nicht eins zu eins wie bei Mutti oder Oma nachkochen." Martin statt Mutti, Kristof statt Oma am Herd, das passt.
„Ein ganz anderes Gurkenerlebnis"
Das „Jemüse" zum Broiler präsentiert sich als Misch aus Erbsen und frischen Möhren, in einer Nage mit Gemüsefond gegart und mit einem – jawohl! – Spritzer Maggi gewürzt. Das Püree, Portion für Portion frisch mit Sahne und Butter aus Quetschkartoffeln gerührt, hat ein beglückend intensives Geflügeljus an die Seite bekommen. Die Hühnerhaut-Chips knabbere ich meinen Mitessern gnadenlos vor der Nase weg. Hätten sie sich halt beeilen müssen!
Die Begleiterin darf sich in der Kunst des Tranchierens beweisen. Brust, Keulen und alles andere, was vom Vogel abzupflücken ist, sind durch die Sous-Vide-Prozedur schön gleichmäßig gegart. „Bei 1,5 Kilo bräuchte ein Broiler nur im Ofen 45 Minuten. Die Zeit hat kein Gast", sagt Martin Müller. Ich hätte gern noch mehr vom starken Geflügeljus zum Aufstippen mit dem Fleisch gehabt. Aber okay, eine fluffige Waldpilz-Sauce aus dem Kännchen ist natürlich eine ebenso schöne Sache. Die Tische um uns herum sind nicht nur mit großen Hühner-Tellern bestückt, weil Köche und Service die Gäste zum gemeinschaftlichen Broilern lieber an die normalen Tische als an den Tresen setzen. Das Essen ist bei mehr als zwei Personen dort einfacher und kommunikativer.
Gerade das Ende des Tresens aber hat seinen eigenen Reiz. Wir können dem Essen beim Entstehen zuschauen. Das Ballett mit Topf, Kartoffeln und Spachtel am Herd ist eher Martin Müllers Part. Kristof Mulack hantiert dagegen mit „Jurken", Möpsen und Kopfsalat. Die ersteren beiden vereinen sich auf dem Vorspeisenteller zu einem „Jurkensalat" mit wahlweise „unjerolltem Mops". Sprich: Ein zartes Stück Heringsfilet legt sich auf standhafte und geschmackvolle Gurkenstangen. Das hat nichts mit wässrigen Salaten oder laffen Supermarkt-Schlangen zu tun. Eine „ordentliche Demeter-Gurke" sei die Basis für die Stäbchen, verrät Müller. „Ein ganz anderes Gurkenerlebnis", urteilt die Begleiterin. So geht Gurke mit Anspruch: Jalapeños, Tabasco und Senf treiben die Gurken im Sud vor sich her. Senfsaat, Sauerklee und Dill sorgen für zusätzlichen Biss, Struktur, Säure und einen Tick Klassik. Es ist ein Gurkensalat, irgendwie, wie man ihn kennt. Dennoch ganz anders und mit guten regionalen und saisonalen Produkten auf den Stand der Zeit und den Punkt gebracht.
Ohne Aufzählung der Produkte und auf den ersten Biss erfasst man das Gericht. „Die Gäste sollen bei uns nicht in die Schule gehen, sondern was essen und ihren Spaß haben", sagt Martin Müller. Den haben sie auf den 15 Plätzen am Tresen und auf den 45 Stühlen an den Tischen zweifellos. Im Laufe dieses Freitagabends wird es voller und voller, munter von Tresen zu Tisch und zurückgewechselt. Es herrscht – ein sicheres Indiz für ein florierendes Lokal der Gattung Kneipe – beste Stimmung unterm musikalischen Teppich. Mag’s am „Rollberg Weizenbier" von den Craft-Beer-Brauern von gegenüber, den an der Bar gemixten Drinks oder an der Wirkung des „Bernsteinburgunders", wie ich den 2017er- Grauen Burgunder vom Pfälzer Weingut Becker taufe, liegen?
Sicher ist es kein Zufall, dass Müller und Mulack ihren „Jurkensalat" beim Gala-Dinner der „Berliner Meisterköche" auftischten. Sie wurden schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung als „Szenerestaurant 2018" ausgezeichnet. Die Voraussetzungen, einen wilden Mix aus Leidenschaft für gutes Essen und Trinken, gute Unterhaltung und eine Portion Geradlinigkeit bringen sie mit. Müller ist der Profi-Koch, mit Ausbildung, Auslandspraktika und „ordentlichen" Stationen, etwa bei Tim Raue als Souschef im „La Soupe Populaire". Mulack, der sich selbst als „kreativer, aber auch mal verpeilter Freigeist" bezeichnet, ist Quereinsteiger beim Kochen, machte Streetart, Hip-Hop, den „Mulax Dinnerclub" und gewann 2015 die TV-Show „The Taste".
Diese unorthodoxe Paarung führt zu loriotschen Szenen: Für den einen steht unumstößlich fest, wie eine Kruste für einen Kabeljau zuzubereiten ist. In drei Schritten nämlich: Butter aufschlagen, Ei hineingeben, mit Kräutern und Paniermehl vermengen. Dem anderen passierte, „dass ich alles durcheinandergebracht und auf einmal in die Kitchen Aid gegeben habe." Sagt der eine sich: „Ist ja eine Kruste dabei herausgekommen", rollt der andere mit den Augen: „Eine Panade wird nun mal klassisch französisch so und nicht anders gemacht." Kurzum: Alles bestens in der glücklichen Küchen-Ehe Müller und Mulack. Die beiden lernten sich in Kristofs Supperclub kennen. Erst gingen sie miteinander feiern und wurden Freunde, dann betrieben sie das „Atelier am Moritzplatz" gemeinsam. Am 13. März sperrten sie schließlich die Tür ihrer „Tisk Speisekneipe" direkt am Knick der Neckarstraße zur Isarstraße auf.
Küchenstil des 21. Jahrhunderts
Folgerichtig nur erscheint es, dass die „Meisterköche"-Gala im „Vollgutlager" auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei am Rollberg gleich gegenüber stattfand. Und die inoffizielle After-After-Show-Party natürlich im „Tisk". Ironie des eigenen Anspruchs: Als „Szenerestaurant" ausgerechnet im schnelllebigen Szenebezirk Neukölln geadelt, haben sich Müller und Mulack dennoch vorgenommen, das „Tisk" zu einer „zeitlosen und verlässlichen Adresse" zu machen. In jedem Fall lockt das Lokal, dessen Name sich von der altdeutschen Bezeichnung für Tisch oder Tresen ableitet, Menschen mit Anspruch ans gepflegte, eher sinnlich-rustikale als verschnörkelte Esserlebnis an.
Die „Speisekneipe" wendet sich aber ebenso an diejenigen, die sich der Eckkneipe preislich nicht zu sehr entfremden wollen: Das Broiler-Gesamtpaket für zwei ist mit 35 Euro fair kalkuliert; „Happen" wie Blutwurstkroketten mit Apfelmus, Fischstäbchen mit Remoulade oder „Jurkensalat" ohne Mops sind für sechs Euro zu haben. Aufrüsten kostet um die drei Euro extra – ein gutes Modell, das Veggies wie Fisch- und Fleischfreunden Spielraum lässt. Ein Dreigang-Menü wird für 39, ein Fünfgang-Menü für 59 Euro am Tresen serviert.
Weil’s passt und die Stimmung gerade so schön ist, wollen wir auf den „Pflaumenkuchen" aus der Dessertabteilung keinesfalls verzichten. Auf einer Brioche-Scheibe haben sich ein Pflaumenkompott, karamelliges Crumble und ein grasgrüner Waldmeisterschaum mit einem Zweiglein Bronzefenchel für den anisigen Hauch niedergelassen. Das ist wohltuend unsüß und verblüffend aromatisch. Waldmeister in seiner nächsten Inkarnationsstufe, die viel mit Mai und Waldboden, aber glücklicherweise nichts mit plastikartigem Sirup und Berliner Weiße zu tun hat: Pflaumenkuchen reloaded und eine Naschattacke wert. Egal, ob Bio-Senfei, Soljanka, Schweinebauch, Königsberger Klopse oder Birnen, Bohnen und Speck auf den Teller kommen – eine angenehme Überraschung im Berliner Küchen-Stil des 21. Jahrhunderts ist im „Tisk" garantiert.