Ein Jahr lang eine der Kulturhauptstädte Europas zu sein – das bringt nicht nur reichlich Aufmerksamkeit und erhöhte Touristenzahlen, die die Kassen klingeln lassen. Häufig reicht der Schwung auch, um das Image einer Stadt komplett umzukrempeln. Beispiele aus Dänemark und Frankreich.
„Rethink" – so lautete das Motto des dänischen Aarhus für das vergangene Kulturhauptstadtjahr 2017. Die zweitgrößte Stadt des Landes war eigentlich gut bestückt mit Museen wie dem renommierten Aros; hatte Kunstsammlungen und eine lebendige Innenstadt rund um eine quirlige Fußgängerzone, auch Kulturzentren wie Godsbanen, das in einem ehemaligen Bahnhof residiert. Im Prinzip gab es schon all das, was sich andere Städte durch den Status als Kulturhauptstadt erhoffen, längst bevor es zur offiziellen Ernennung kam. In Aarhus jedoch, das immer ein wenig im Schatten der Hauptstadt Kopenhagen stand, wollte man das Kulturhauptstadtjahr nutzen, um sich globalen Herausforderungen zu stellen. Problemen, mit denen das umliegende Jütland wie viele andere europäische Regionen zu kämpfen haben – vom Klimawandel über die Urbanisierung bis zur sozialen Ausgrenzung.
Und vieles, was im vergangenen Jahr angestoßen wurde, findet eine Fortsetzung: So sind die Initiatoren des Kulturhauptstadtjahrs stolz auf heimische Künstler, die sich 2017 in Aarhus präsentierten und jetzt international ihre Werke zeigen. Und vor allem darauf, dass zahlreiche Kulturinitiativen, aber auch pädagogische Projekte im Rahmen der aus der Kulturhauptstadt hervorgegangenen „europäischen Kulturregion" weitergehen können.
19 Kommunen rund um Aarhus inklusive der Stadt selbst haben sich zusammengetan und gemeinsam einen Kulturfonds aufgelegt. Auch die Stiftung Aarhus 2017, die das Kulturhauptstadtjahr organisierte, hat im laufenden Jahr einige Projekte weiterfinanziert.
Zu denjenigen, die so die Chance bekommen, sich über einen längeren Zeitraum zu beweisen, gehören auch Josephine Marie Bülow und ihr Filmprojekt in Gellerup. Gellerup ist ein Stadtteil von Aarhus, in den sich sonst kaum ein Künstler oder Kulturschaffender verirrt – zu grau, zu abgelegen, zu viel Kriminalität und soziale Ungleichheit. 80 Prozent der Bewohner sind Migranten, 2016 landete der Stadtteil auf der sogenannten Ghetto-Liste von Dänemark.
Eine Spinnerei wird Kulturort
Doch Josephine weiß, dass viele der Jugendlichen hier äußerst begabt sind, interessante Ideen für Filme haben. Die will sie herauskitzeln, gemeinsam mit den Teilnehmern ihrer Workshops umsetzen. Klar, dass sie sich über die weitere Förderung durch die Stiftung Aarhus 2017 und die Stadt selbst freut.
Auch wenn das Viertel kein einfaches Pflaster für Kunstprojekte ist – Josephine bleibt bei ihrem Credo, nichts in Gellerup wäre nur schwarz oder weiß. Was Saljed, ein Kollege von Josephine, bestätigt: Er war selbst einmal Teilnehmer des Workshops und wurde dann als technischer Assistent angestellt. Saljed wohnt in Gellerup und kämpft mit dem schlechten Image, das sein Viertel in der Stadt hat: „Der Filmworkshop kann helfen, weil viele Menschen bei uns einfach nach einer Tätigkeit suchen, um nicht allein zu Hause zu sein und sich zu langweilen. Wir wollen unseren Leidenschaften nachgehen!"
Ähnliches bekommt man rund eintausend Kilometer weiter südwestlich zu hören, im nordfranzösischen Lille. Ein kühler Herbstabend, durch die engen Straßen des Viertels Wazemmes schleicht Feierabendverkehr. Nordafrikanische Supermärkte und Imbisse reihen sich hier dicht an dicht an chinesische Restaurants, Bäckereien, Kioske – Musikfetzen klingen aus Geschäften, es duftet nach frisch Gebackenem.
An einer Straßenecke liegt eines der „Maisons Folies", ein „Haus der Verrücktheiten" – unschwer an seiner mit einer Art gewellten Metallfolie überzogenen Fassade zu erkennen. Vor 14 Jahren hatte Lille, die Hauptstadt der Region Hauts-de-France, ihren Auftritt als europäische Kulturhauptstadt – und die „Maisons Folies" waren Kern des Konzepts. Schließlich gab es in Lille und den umliegenden Städtchen wie Roubaix oder Tourcoing genügend stillgelegte Textilfabriken oder Spinnereien. Man wollte den Titel Kulturhauptstadt und die damit verbundene Förderung nutzen, um diese alten Industriegebäude zu restaurieren und sie zu Kultur- und Begegnungszentren umzugestalten.
Heute könne man von einer Erfolgsgeschichte sprechen, sagt Mathieu Raoult von den Maisons Folies in Wazemmes und Moulins. Die ehemalige Spinnerei von Wazemmes beispielsweise, die 2002 noch einen heruntergewirtschafteten und verfallenen Eindruck machte, ist so zur Institution geworden. Viele Bewohner des Viertels kommen regelmäßig zu den Veranstaltungen, im großen Saal können Konzerte mit bis zu 700 Besuchern stattfinden. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist das Kultur- und Begegnungszentrum gefragt. Auf dem Programm stehen zahlreiche Workshops und Mitmachangebote, von Tanz bis zum vorweihnachtlichen Basteln. Außerdem werden in der früheren Textilfabrik Ausstellungen gezeigt – unter anderem im Rahmen von „Lille 3000".
Man sei eigentlich eine Mischung aus Festival und Kunstbiennnale, sagen die Kuratoren von „Lille 3000" – sie kümmern sich seit 2004 gewissermaßen um die Nachfolgeveranstaltung des Kulturhauptstadtjahres. Das hatte Lille und der Region nicht nur Millionen von Besuchern aus dem In- und Ausland beschert, allein zum großen Eröffnungsfest kamen rund 750.000 Neugierige. Es habe auch sehr dazu beigetragen, dass man begonnen habe, mit dem kulturellen Erbe – also auch dem Industrieerbe – bewusster umzugehen, sagt Olivier Célarié, der Pressesprecher von „Lille 3000". Außerdem habe das Jahr Lust auf Kultur auch an ungewöhnlichen Orten geweckt. Diese Impulse könne man jetzt nutzen: So verwandelte 2012 „Fantastic" die Stadt mit ihren unterschiedlichen Vierteln in eine Bühne für Theater, Tanz und Performances, flankiert von mehreren Ausstellungen. In diesem Jahr steht Kuba im Mittelpunkt eines facettenreichen Programms. Stolz sind die Köpfe hinter „Lille 3000" auch darauf, dass man in den vergangenen Jahren neue spektakuläre Veranstaltungsorte einweihen konnte – so das „Tripostal", ein ehemaliges Postamt, oder den Gare St. Sauveur, einen früheren Güterbahnhof. Ein Ort, der sich mit seinen riesigen Hallen gleichermaßen für die Präsentation ungewöhnlicher Kunstwerke wie für Mode-Events eignet.
Ganz klar, die Kultur sei einer der wichtigsten Motoren für die Entwicklung der ganzen Region, sagt Stadtentwickler Stanilas Dendievel. Daher investiere Lille bis zu 15 Prozent seines Haushalts in die Kulturförderung, man investiere damit in die Zukunft.
Das gelte auch für kleinere Städte in der Region, wie beispielsweise für Roubaix vor den Toren von Lille. „La ville de 1.000 cheminées", die „Stadt der eintausend Schornsteine" sei Roubaix im 19. Jahrhundert genannt worden, erzählt Pauline von der Manufacture des Flandres, dem Textilmuseum der Stadt. Denn es habe in dem Städtchen 267 Fabriken gegeben, von der Spinnerei über die Färberei bis zur Weberei. Heute lässt sich zwar noch immer am Stadtbild ablesen, wie sehr der Zusammenbruch der Textilindustrie die Region beutelte. Doch einiges konnte auch hier im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs und durch die Aktivitäten von „Lille 3000" angeschoben werden.
Neue Bühnen Für „Lille 3000"
Wer beispielsweise würde vermuten, dass in einer Seitenstraße ausgerechnet in einem ehemaligen Schwimmbad eines der ungewöhnlichsten Museen in Frankreich zu finden ist? „La Piscine" wurde von Jean-Paul Philippon Anfang der 30er-Jahre im Art-déco-Stil entworfen, mit bunten kunstvoll gestalteten Glasfenstern, durch die gelbe und orangefarbene Lichtstrahlen auf das nun trockengelegte Schwimmbecken fallen. 2001 wurde das Gebäude zum Museum, mittlerweile eines der am meisten besuchten in ganz Frankreich. Kunst aus der Region wird hier ebenso wie textiles Industriedesign gezeigt – „Star" der Sammlung aber ist eine Skulptur von Camille Claudel, ein Mädchenkopf.
Ganz anders, mit rohem Industriecharme, kommt die „Condition Publique" daher – ein ehemaliges Woll-Lager, in dem das Material auch beispielsweise auf seinen Wassergehalt geprüft wurde. 2004 sei der riesige Gebäudekomplex auch eine der „Maisons Folies" gewesen, erzählt Giulia vom Organisationsteam. Jetzt werde die „Condition" als Kulturzentrum für bildende Künstler, Theatermacher und andere Kulturschaffende nicht nur aus der Region genutzt. Hier findet beispielsweise einmal im Jahr die „Braderie de l’Art" statt – eine Mischung aus Kunstmesse und -spektakel, bei der Kreative Originelles und Alltagstaugliches aus Altmaterial herstellen, vom Papier über Textilien bis zum Metallschrott. Eine Veranstaltung, die jedes Mal um die 15.000 Besucher anzieht.
Von solchen Publikumserfolgen ist man in Aarhus-Gellerup noch weit entfernt. Beim „Gellerup Filmworkshop" geht es ein Jahr, nachdem Aarhus Kulturhauptstadt war, immer noch erst mal um Akzeptanz im Viertel. Und darum, mehr Teilnehmer in die Workshops und Projekte zu locken.
Bis Ende 2019 ist dafür noch Zeit, so lange erhält das Filmprojekt Förderung. Leiterin Josephine ist optimistisch: Sie sieht gute Chancen, in dem Problemviertel kontinuierlich künstlerisch arbeiten zu können. Und wenn Filme aus Gellerup in Aarhus und der Region wahrgenommen würden, sagt sie, dann wäre das Ziel „Rethink" des Kulturhauptstadtjahrs doch wenigstens ein Stück weit erreicht.