Nach wenigen Wochen des Verhandelns war es entschieden: Siemens investiert 600 Millionen Euro in einen Zukunftscampus in Berlin-Spandau. Bei aller Euphorie: Hinter der Entscheidung stecken auch handfeste Interessen.
Berlin und Siemens – das ist eine lange und wechselvolle Geschichte. Die Stadt war immer der Stammsitz der Firma, hier beschäftigte man in Blütezeiten bis zu 200.000 Arbeiter. Man verdiente gut an der Elektrifizierung Deutschlands in den 20er-Jahren, und auch bei der Aufrüstung im Dritten Reich machte Siemens seinen Schnitt. Doch bereits 1948 zog die Firma nach Bayern um. Berlin, die Frontstadt im Kalten Krieg, hatte ausgespielt.
Eine 100-jährige Firmengeschichte vor Ort schien beendet. Denn begonnen hatte alles schon im Jahre 1847 mit der Telegrafie: Werner von Siemens gründete zusammen mit Johann Georg Halske in Berlin eine „Telegraphen-Bau-Anstalt". Schon kurz danach erhielt die Firma ihren wichtigsten Auftrag: den Bau einer Verbindung zwischen Berlin und Frankfurt, dem Tagungsort der deutschen Nationalversammlung. Schlagartig bekannt, legten Siemens & Halske erst in ganz Europa Telegrafenleitungen; und dann bis nach Kalkutta und Aserbaidschan. Und die Tätigkeitsfelder weiteten sich aus: Siemens sorgte für die erste elektrische Straßenbeleuchtung in Berlin, baute eine strombetriebene Tram (für Lichterfelde) und experimentierte mit Elektromotoren. Die Firma wuchs, brauchte Platz. 1897 kaufte die Firma ein wildes Feld mit spärlichem Bewuchs zwischen Charlottenburg und Spandau, die Nonnenwiesen.
Heute, 121 Jahre später, gehören die ehemaligen Nonnenwiesen immer noch Siemens. Ein Dynamowerk, ein Schaltwerk, die Verwaltung, Ausbildungsbetriebe und ein paar andere Gebäude stehen noch auf dem 70 Hektar großen Gelände, das nun zu einem „Innovationscampus" werden soll. In Spandau, so der Plan, wird bis 2030 für gut 600 Millionen Euro die „Siemensstadt 2.0" entstehen. Mit einem Wermutstropfen im Vorfeld: Das Dynamowerk mit 1.110 Beschäftigten soll zuvor geschlossen werden.
Siemensstadt 2.0 mit Sozialwohnungen
Michael Müller, der Regierende Bürgermeister, zeigt sich heute hochzufrieden und stolz. Vor knapp einem Jahr war sein Verhältnis zu Siemens noch ein anderes: Da stand er mit in der Menschenkette, die gegen die Schließung des Dynamowerks protestierte. Das kam bei Siemens nicht so gut an. Ebenso wenig, dass der Senat dem Konzern beim Plan, sich im Garten des historischen Magnus-Hauses eine vornehme Repräsentanz zu bauen, nicht entgegenkam. Doch das alles ist offenbar Schnee von gestern.
Dass Berlin dennoch den Zuschlag im Wettbewerb mit anderen Standorten erhalten hat, lag sicher auch daran, dass der Konzern hier nicht für teures Geld Bauland erwerben muss, sondern auf eigenem Grund und Boden bauen kann. Dazu kommt, dass sich der Senat bereit erklärt hat, beim Denkmalschutz Zugeständnisse zu machen und eine S-Bahn-Verbindung zu dem Campus zu bauen – obwohl es bereits einen U-Bahn-Anschluss gibt. Und natürlich wurde eine superschnelle Internetverbindung versprochen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für eine Metropole, aber in Berlin kämpfen viele Firmen verzweifelt um schnelle Anschlüsse.
Auf dem Gelände sollen Forschungseinrichtungen, Fach- und Gründungszentren sowie Start-up-Firmen angesiedelt werden. Bei der Vorstellung des Projekts wimmelte es nur so von Technikbegriffen: Blockchain, Additive Manufacturing, Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Data Analytics. Aber es werden auch Wohnungen gebaut, darunter sogar fast ein Drittel Sozialwohnungen. Der Senat wird den Bauvorschriften entsprechend einen Architektenwettbewerb ausloben, nach dem die Pläne für das Gelände ausgesucht werden sollen.
Es klingt, als käme Siemens erst jetzt zurück – dabei ist der Konzern aus Berlin nie ganz weg gewesen. Sukzessive haben sich in der Hauptstadt immer mehr Firmenteile angesiedelt. Alles in allem sind in Berlin heute rund 11.000 Menschen für Siemens tätig. In Moabit bauen sie Gasturbinen für Großkraftwerke. Signaltechnik für die Bahn kommt aus Treptow. Auch Schaltanlagen, Messtechnik, Elektrotechnik für Stromgewinnung und -transport gehen von Berlin aus in alle Welt. Dazu gibt es einen Forschungsbereich mit 1.100 Mitarbeitern. Und im Ausbildungszentrum lernen 1.300 Azubis, was sie für ihre Arbeit im Konzern brauchen.
Joe Kaeser, der Siemens-Chef, betont vor allem, dass auch Wohnungen entstehen werden. Er spricht in dem Zusammenhang von der Spaltung der Gesellschaft. Als Beispiel nennt er München, wo es für Menschen, „die einen ganz normalen Job haben", schwer sei, eine vernünftige Bleibe zu finden. Das dürfe nicht der neue Standard werden, „aber wir sind auf dem besten Weg dahin", mahnt Kaeser.
Was bestimmt auch in die Wohnungsbaupläne mit hineinspielt: Für Technologiekonzerne wird es zunehmend schwerer, gute Fachkräfte für sich zu gewinnen, wenn die Umgebung nicht stimmt. Angesichts des starken Wettbewerbs um IT-Spezialisten, Techniker und Ingenieure spielen Wohnkosten, schulische Infrastruktur und städtische Anbindung eine nicht geringe Rolle. Bis dahin, dass sich teilweise nicht mehr die Mitarbeiter bei den Firmen, sondern die Firmen bei den künftigen Mitarbeitern bewerben müssen.
Silicon Valley – sagt der Siemens-Chef – beeindrucke ihn heute nicht mehr. Neben den exklusiven Wohnsitzen der Milliardäre gebe es in der Region die höchste Obdachlosigkeit in den USA. Inzwischen brauche auch niemand mehr dort hinzufliegen, um die neuesten Innovationen zu bestaunen. Und dann knüpft er nochmal an die lange Siemens-Geschichte an, mit der Berlin verbunden ist: „Hier in Deutschland, gerade in Berlin, gab es Gründungen schon, da gab es im Silicon Valley noch gar keine Garagen."