Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer gilt als einer der prägendsten deutschen Informatik-Wissenschaftler und -Unternehmer der vergangenen Jahrzehnte. Mit 77 Jahren denkt er jedoch nicht ans Aufhören, sondern will vielmehr in Zeiten des digitalen Wandels weiter Zeichen setzen.
Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Cloudtechnologie, Start-ups: Die Digitalisierung erfasst uns in Riesenschritten. Ein sichtbares Zeichen dieser Entwicklung entsteht derzeit auf dem Universitäts-Campus in Saarbrücken: Der Informatik-Wissenschaftler und Software-Unternehmer Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer lässt derzeit einen zweiten Büroturm für sein Unternehmen, die Scheer GmbH, errichten. Während die IT-Wirtschaft im Saarland wächst, hat die Universität in diesem Jahr den Wettbewerb der Hochschulen um die deutschlandweite Exzellenzinitiative der Informatik verloren – ein Debakel für den vorab hochgelobten Informatikstandort. Jetzt fehlen Forschungsgelder. FORUM sprach mit Professor August-Wilhelm Scheer über die neuen Herausforderungen, über Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Wirtschaft und über den digitalen Nachholbedarf in diesem Land.
Herr Professor Scheer, die Digitalisierung bietet Chancen und Risiken zugleich. Welche Unternehmen sind betroffen?
Wir alle sind mehr oder weniger, früher oder später von der Digitalisierung betroffen. Denn eines ist klar: Aufhalten können wir diese Entwicklung nicht. Die Praxis hat bereits gezeigt, dass es zu Jobverlusten kommen wird, dafür entstehen aber andere. Es sind aber nicht unbedingt die einfachen Tätigkeiten, die verloren gehen, sondern vielmehr die Arbeiten, die sich im Produktionsprozess am besten automatisieren lassen. Unternehmen sind aufgefordert, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken. Arbeitsstrukturen, Prozessabläufe, Businesskonzepte, all das gehört auf den Prüfstand. Althergebrachte und bisher durchaus erfolgreiche Modelle werden durch disruptive Ideen ersetzt. Unternehmen, die zum Beispiel vorher Autos verkauft haben, verkaufen künftig Mobilität, Turbinenhersteller vertreiben Schub oder Energieunternehmen Wärme, Kälte oder Druckluft, je nach Wunsch des Kunden. Das hat Auswirkungen auf die Arbeitsplätze: Fachingenieure und Meister werden zu Softwareingenieuren, Handwerker zu Servicedienstleistern und so weiter.
Können wir mit dieser rasanten Entwicklung überhaupt mithalten?
Wenn Deutschlands Industrie sich auf ihre Stärken besinnt und wir lebenslanges Lernen ernstnehmen, haben wir durchaus gute Chancen, auf der Digitalisierungswelle ganz oben mitzureiten. Wir haben innovative Ingenieure und produzieren qualitativ hochwertige und auf dem Weltmarkt nachgefragte Produkte in vielen Branchen. Das gilt es nun, mit digitalen Prozessen zusammenzubringen und zu vernetzen, wie bei Industrie 4.0 mit dem Internet der Dinge.
Wir alle müssen uns aber auch auf lebenslanges Lernen einstellen. Das beginnt in der Schule und hört nicht mit dem Berufsleben auf.
Sie könnten sich nach erfülltem Berufsleben ein wenig zurückziehen. Aber ganz im Gegenteil sind Sie noch einmal richtig durchgestartet. Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihren Unternehmen?
Unser Konzept besteht darin, die gesamte Wertschöpfungskette abzubilden. Unter dem Dach der Gruppe betreiben wir angewandte Forschung, wir befinden uns dort quasi „vor den Märkten". In einem zweiten Schritt versuchen wir, aus den Ideen marktreife Produkte zu realisieren. Dazu brauchen wir Start-up-Unternehmen, die sich im Übrigen nicht zwingend aus der Scheer Group entwickeln müssen. Wir sind derzeit an
sechs Start-ups beteiligt, weitere Anfragen liegen bereits vor. Diese Start-ups sind oftmals sehr spezialisiert, haben aber im Gegensatz zu Großunternehmen die Flexibilität, aus kleinen Ideen Großes zu entwickeln.
Einige schaffen das, andere nicht. Für das Saarland wäre es übrigens gut, wenn so ein erfolgreiches Unternehmen seinen Sitz hierzulande behalten und nicht an ein Unternehmen außerhalb des Saarlandes verkauft würde. Denn die wichtigen Entscheidungen werden in der Unternehmenszentrale getroffen. Und diesem Aspekt kommt im digitalen Zeitalter eine Schlüsselrolle zu.
Inwiefern?
Das Saarland ist Industrieland. Das heißt, viele Arbeitsplätze sind Industriearbeitsplätze. Gleichzeitig befinden sich die Zentralen vieler großer Industrieunternehmen im Saarland an anderen Standorten. Das zeigt das Beispiel der Automobilindustrie mit den großen Zulieferunternehmen. Wichtig wird es für das Saarland sein, dass künftig zukunftsweisende Produkte hier entwickelt und gebaut werden, um weiterhin Wachstum zu generieren. Ich selbst habe ja beim Verkauf der IDS Scheer AG 2009 erlebt, dass die Entwicklung am Standort rückläufig ist, wenn die Entscheidungskompetenzen nicht mehr im Saarland sind.
Wie wollen Sie das beeinflussen?
Was wir brauchen, ist eine gute Durchmischung verschiedener Strukturen. Wir sollten verstärkt den Ansatz der regionalen Wirtschaft fördern. Dazu benötigen wir junge Menschen, die motiviert sind, sich selbstständig zu machen. Einzig und allein eine Idee zu haben, reicht nicht. Die Verantwortlichen eines Start-up-Unternehmens müssen in der Lage sein, eine mögliche Durststrecke zu überwinden und bei Erfolg der Versuchung widerstehen, sich aufkaufen zu lassen. Es ist letztendlich eine Frage der unternehmerischen Einstellung. Will ich schnell und viel Geld verdienen oder möchte ich langfristig etwas bewegen?
Zudem appelliere ich an die Unternehmen hierzulande, gut ausgebildeten qualifizierten Menschen eine berufliche Perspektive zu geben und mehr Start-ups zu unterstützen. Das machen im Saarland leider viel zu wenige, obwohl einige Unternehmen dazu in der Lage wären. Es darf nicht sein, dass wir an der Universität und im Forschungsumfeld Toptalente für viel Geld ausbilden und sie dann anschließend in andere Regionen ziehen lassen. Auch die Uni selbst ist gut beraten, mehr in die Weiterbildung ihrer ehemaligen Absolventen zu investieren. Das schafft Mehrwert in Wissen und Informationen, erzeugt Vernetzung und bindet langfristig wichtige Mitarbeiterpotenziale an das Saarland.
Nach dem ersten Scheer-Tower folgt nun der zweite. Warum so schnell, und für wen ist er bestimmt?
Der zweite Tower wird primär aus Platzgründen gebaut. Die Unternehmen der Scheer Group sind stark auf Wachstumskurs. Allein der Auftragseingang der Scheer GmbH mit derzeit 500 Mitarbeitern wächst in diesem Jahr um 30 Prozent, bei der IMC um 15 Prozent und auch das von mir gegründete gemeinnützige August-Wilhelm-Scheer-Institut für digitale Produkte und Prozesse ist innerhalb von drei Jahren von null auf 60 Mitarbeiter gewachsen. Wir brauchen Platz für die Erweiterung bestehender Unternehmen, aber auch Raum für neue Ideen in Form von zu uns passenden Technologieunternehmen und Start-ups, die wir im zweiten Turm unterbringen wollen. Außerdem wird es einen Showroom im Rahmen des Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrums geben, um anschaulich die Chancen der Digitalisierung zu zeigen. Läuft alles weiter planmäßig, ist der Turm im ersten Quartal nächsten Jahres bezugsfertig. Des Weiteren will ich ein sichtbares positives Zeichen für die Universität des Saarlandes setzen, mit der ich mich emotional tief verbunden fühle.
Erklären Sie das bitte etwas detaillierter!
Ich habe viele Jahre an der Uni gelehrt, mit IDS Scheer ein Unternehmen mit über 3.500 Mitarbeitern aus dem Saarland heraus aufgebaut, zahlreiche Unternehmensgründungen mitbegleitet und Karrieren geschaffen. Das verbindet, gerade in schwierigen Zeiten. Denn die Uni des Saarlandes ist beim Exzellenzcluster dieses Jahr leer ausgegangen. Die Uni muss nun schauen, Forschungsgelder verstärkt über die Deutsche Forschungsgemeinschaft, EU-Töpfe und Bundesministerien einzuwerben. Nach dem Motto ‚jetzt erst recht‘ will ich tatkräftig unterstützen und den Blick nach vorne richten. Denn wir haben mehr als nur einen guten Ruf zu verlieren.
Wie rekrutieren Sie den so wichtigen Nachwuchs in Zeiten des demografischen Wandels?
Das ist in der Tat ein Riesenproblem nicht nur im Saarland, sondern auch an unseren anderen Standorten in Deutschland. Wir haben derzeit allein in der Scheer GmbH 100 offene Stellen, bei IMC sind 20 Stellen unbesetzt. Unsere Akquisitionsbemühungen von Mitarbeitern erfolgen in erster Linie über das Internet und über soziale Netzwerke. Außerdem akquirieren wir über Kongresse, Tagungen oder über den sogenannten Software-Campus. Das universitäre Umfeld ist für uns sehr wichtig.