Was hat mein Opa im Krieg gemacht? Welche Lieder dürfen Soldaten noch singen? Wie soll unsere Kaserne heißen? Was halten die Deutschen vom Afghanistan-Einsatz? Militärhistoriker bei der Bundeswehr beschäftigen sich in einem Forschungsinstitut in Potsdam mit solchen Fragen.
Bücher im Überfluss: Das Wandregal ist voll, auf dem Tisch stapeln sich Wälzer über den Zweiten Weltkrieg und die NVA, die Armee der einstigen DDR. Dazwischen liegt ein unscheinbares schwarzes Handy, ein eher älteres Modell. Oberstleutnant Heiner Bröckermann hat es tagsüber bei sich, um ständig erreichbar zu sein. Er hat heute Tagesdienst bei der „Ansprechstelle für militärhistorischen Rat" beim ZMSBw, dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Es sind aber weder Fahrer von liegengebliebenen Panzern noch suizidgefährdete Personen, die sich melden. Die Telefonnummer und die dazugehörige E-Mail-Adresse sind gedacht für Soldaten, die unsicher sind, ob bestimmte Symbole heute noch okay sind: Orden, Abzeichen, Lieder oder Inschriften etwa. Das Telefon ist eine Reaktion auf den berüchtigten Fall „Franco A.", den Soldaten mit den Stahlhelm-Devotionalien, der 2017 für Aufregung sorgte.
Mit dem ZMSBw hat die Bundeswehr ihr eigenes wissenschaftliches Forschungsinstitut. Es sitzt seit 20 Jahren in der repräsentativen Villa Ingenheim in der Brandenburger Vorstadt von Potsdam. Wo einst ein Prinz von Hohenzollern, nämlich Eitel Friedrich, ein Sohn des letzten deutschen Kaisers, residierte, befinden sich nun Büros und Besprechungszimmer für einige Dutzend Wissenschaftler und Mitarbeiter. Aus der Reithalle des Prinzen wurde die gut ausgestattete wissenschaftliche Bibliothek.
Im ZMSBw erforschen Sozialwissenschaftler der Bundeswehr beispielsweise die Stimmungslage in der Bevölkerung. Geografen und Politikwissenschaftler arbeiten an Büchern über Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Mali – also die Einsatzländer der Bundeswehr: „Soldaten sollen die Länder und die Menschen in den Ländern verstehen können, in denen sie eingesetzt werden", sagt Heiner Bröckermann, Leiter des Grundlagenbereichs in der Abteilung Bildung.
Die Bundeswehr hat ein eigenes Institut
Bröckermann ist Soldat und Historiker. Sein persönlicher Auslandseinsatz war 1996 bis 1997 in Bosnien. Militär-Historiker wie er sind gefragt in diesen Tagen: „Meistens geht es bei den Anfragen um die Wehrmacht und den Zweiten Weltkrieg." Das beschäftigt die Menschen immer noch sehr, auch die Soldaten der Bundeswehr. Oft wollen Familien etwas über eigene Verwandte wissen: War mein Opa ein Täter? Keine leichte Frage. Was soll der Historiker dazu sagen? Meistens lässt sich nur feststellen, in welcher Einheit ein Soldat gedient hat, welche Funktion er hatte und wo die Einheit eingesetzt war. „Was er wirklich gemacht hat – also ob er an Kriegsverbrechen beteiligt war, ist bei einzelnen Soldaten schwer nachzuprüfen", sagt Bröckermann.
Aufgabe der Bildungsabteilung ist es zudem, die Lehrbücher für die Offiziersanwärter an den Bundeswehrschulen auf den neuesten Stand zu bringen und die Ergebnisse aktueller Forschung zu berücksichtigen. „Wir halten uns dabei an die internationalen Standards der Wissenschaft: Nachprüfbarkeit und Objektivität, soweit möglich", sagt Bröckermann.
Gefragt sind die Potsdamer Experten etwa, wenn es um die Namensgebung von Bundeswehr-Kasernen geht. Derzeit gibt es noch sechs Kasernen, deren Namen einen Bezug zur Wehrmacht, also der deutschen Armee unter den Nationalsozialisten, haben. Zwei heißen nach Erwin Rommel, dem Feldmarschall der Wehrmacht, der am Ende den Kontakt zum Widerstand suchte und daher von Hitler zum Selbstmord gezwungen wurde. Taugt „Hitlers Lieblingsgeneral" noch als Namensgeber? Die Frage ist hochpolitisch. Daher hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im März dieses Jahres festgelegt, wie die Bundeswehr mit solchen Fällen umgehen soll. Dafür hat sie den sogenannten Traditionserlass aus dem Jahr 1982 überarbeitet. Es wurde auch Zeit. Denn viel hat sich seither getan: insbesondere die Wiedervereinigung und die Eingliederung der NVA in die Bundeswehr.
Eigentlich ist der Traditionserlass eindeutig: Die Bundeswehr brauche Tradition, damit Soldaten wissen, wofür sie ihr Leben riskieren. Die Wehrmacht aber stifte keine Tradition, hält der Erlass fest. Einzige Ausnahme: Wenn es eine Verbindung zum Widerstand des 20. Juli 1944 gibt. Der „Wüstenfuchs" Erwin Rommel hatte offenbar eine solche Verbindung, aber wie stark war diese? Darüber wird bis heute unter Historikern diskutiert. An der Diskussion sind auch die Historiker des ZMSBw beteiligt. „Unsere jüngsten Forschungen haben gezeigt, dass Rommel doch mehr vom Widerstand wusste, als bislang bekannt war", sagt Bröckermann.
Fachwissen der Historiker ist gefragt
Aber Wissenschaftler können keine politischen Entscheidungen treffen. Über die Namen der Kasernen entscheiden die Einheiten vor Ort, zusammen mit dem Ministerium. Dazu brauchen sie das Fachwissen der Historiker. „Wir machen Wissenschaft. Für die Tradition der Bundeswehr sind wir nicht zuständig", sagt Bröckermann. Die politische Bewertung eines Namens und die Konsequenzen daraus kann nur das Ministerium vornehmen. So geschehen zuletzt im März, als Ministerin von der Leyen eine Kaserne nach dem in Afghanistan gefallenen Soldaten Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein umbenannt hat.
Wissenschaft muss frei sein, wenn sie ernst genommen werden soll. Ist die Forschung des Bundeswehr-Instituts wirklich frei? Bemerkenswert am Potsdamer Institut, wie schon seines Vorläufers in Freiburg, ist, dass ein Offizier das Kommando hat. Aktuell ist das Kapitän zur See Dr. phil. Jörg Hillmann. Was bedeutet das für die Wissenschaft? Offenbar nichts Negatives: „In der Forschung sind wir frei und halten uns an internationale Standards, so wie Wissenschaftler von Universitäten auch", bekräftigt Bröckermann. Tatsächlich war die Forschung der Bundeswehrhistoriker einst wegweisend. Als die berühmte Wehrmachtsausstellung Mitte der 1990er-Jahre in Deutschland zu heftigen Debatten führte, gab es bereits einen dicken Wälzer des Freiburger Forschungsinstituts der Bundeswehr. Darin stand im Detail alles, was in der Ausstellung später thematisiert wurde und damals für große Aufregung sorgte. „Das Buch hatte aber kaum jemand gelesen, und es gab kein Internet, das die Ergebnisse popularisiert hätte", sagt Bröckermann. Nicht erst der Druck der Öffentlichkeit hat die Wissenschaftler zu kritischer Forschung gezwungen, sondern umgekehrt: Die Wissenschaft hat die Wehrmachtsverbrechen dokumentiert, bevor das große öffentliche Interesse kam.