Internationale Forscherteams schlagen mit diversen Studien Alarm angesichts der Verdopplung von Kaiserschnitten. Diese sind medizinisch größtenteils nicht notwendig und mit erheblichen etwaigen Risiken und Folgeschäden für Mutter und Kind behaftet.
In Deutschland wird inzwischen fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt entbunden. Die Quote im Saarland liegt dabei sogar noch deutlich über dem Bundesdurchschnitt von hohen 30,5 Prozent. Mit 38,4 Prozent wurden an der Saar den aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2016 zufolge so viele Section caesarea, so der medizinische Fachbegriff für den Kaiserschnitt, durchgeführt wie nirgends sonst in der Republik. Weltweit ist das ein durchaus fragwürdiger Spitzenwert. Auch in Südamerika mit 41 Prozent sowie Lateinamerika und der Karibik mit gut 44 Prozent sind die Kaierschnittraten sehr hoch. Was viele Mediziner und Wissenschaftler aber ganz besonders alarmierend finden, ist der global rasante Anstieg der Kaiserschnitte. Die Quote hat sich seit der Jahrtausendwende fast verdoppelt. Diesbezüglich liegt Deutschland voll im Trend, denn laut Angaben des Statistischen Bundesamtes erhöhte sich der Anteil der Kaiserschnitte an Geburten zwischen 1991 und 2016 von 15,3 auf 30,5 Prozent.
Viele Experten sind sich darüber einig, dass in vielen Fällen der chirurgische Eingriff absolut unnötig ist. Nur bei schätzungsweise zehn bis 15 Prozent der Geburten weltweit besteht aus medizinischer Sicht die Notwendigkeit, zum Wohle von Mutter und Kind einen Kaiserschnitt durchzuführen. Häufiger sollte der Eingriff daher eigentlich als Alternative zur natürlichen vaginalen Geburt nicht in Erwägung gezogen werden. Gemäß der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ist die Kaiserschnittentbindung vor allem dann unumgänglich, wenn das Kind quer im Bauch der Mutter liegt, wenn sich die Plazenta vorzeitig gelöst hat oder wenn die Nabelschnur eingeklemmt zu werden droht, wodurch das Kind nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Ein viel zu hoher Anteil der Kaiserschnitte erfolgt jedoch inzwischen aus Gründen, die selbst unter Medizinern mehr als umstritten sind. Dazu gehören die Steißlage, also jene Position des Kindes, bei der nicht der Kopf, sondern das Gesäß des Kindes nach unten zeigt, ein hohes Gewicht des Kindes von mehr als 4.500 Gramm oder Zwillingsschwangerschaften.
Steigendes Alter der Frauen
In den allermeisten Fällen könnten Schwangerschaft und Geburt auf natürlichem Wege und komplikationslos ohne Kaiserschnitt über die Bühne gehen. Dies belegten erst jüngst wieder drei im Fachmagazin „The Lancet" publizierte Studien eines internationalen Forscherteams um Marleen Temmerman, einer belgischen Gynäkologin, die an der Aga Khan Universität in Kenia und der Ghent Universität in Belgien tätig ist. Die Wissenschaftler prangerten eine „Kaiserschnittepidemie" an und machten auf die teils gravierenden Folgen und Risiken aufmerksam. Temmerman: „Schwangerschaft und Geburt sind normale Vorgänge, die in den meisten Fällen sicher ablaufen. In Fällen, in denen es Komplikationen gibt, retten Kaiserschnitte Leben, und wir müssen ihre Zugänglichkeit in ärmeren Regionen verbessern, sodass sie universell zur Verfügung stehen. Aber wir sollten sie nicht übermäßig nutzen."
Der nicht an den Studien beteiligte Prof. Wolfram Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Berliner Charité, hat sich ganz entschieden gegen die von seinen Kollegen geschürte „Kaiserschnittvermeidungshysterie" und die ins Spiel gebrachte Kaiserschnitt-Orientierungsquote von maximal 15 Prozent der Geburten gewandt: „In Deutschland und anderen westlichen Ländern gibt es in deutlich mehr Fällen gute Gründe für einen Kaiserschnitt." Beispielsweise das steigende Alter der Frauen bei der Geburt, die Zunahme der Schwangerschaften nach künstlicher Befruchtung und damit häufig einhergehenden Mehrlingsschwangerschaften, die wachsenden Probleme von werdenden Müttern mit Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes oder ein stetig größer werdendes Sicherheitsbedürfnis für das Kind.
In der ersten der drei Studien, die von einem Team um den Mediziner Ties Boerma von der kanadischen Universität von Manitoba erstellt wurde, wurde auf Basis von Statistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO und des UN-Kinderschutzwerks Unicef die zahlenmäßige Entwicklung der Kaiserschnitte weltweit untersucht ‒ wobei 169 Länder mit insgesamt 98,4 Prozent der globalen Geburten berücksichtigt werden konnten. Das Resümee lautete: In armen Ländern, in denen das Gesundheitssystem unzulänglich ist, ist der Kaiserschnitt selbst bei kritischen Situationen häufig nicht verfügbar, in reichen Regionen wird der Eingriff zu oft durchgeführt. Zwischen 2000 und 2015 hat sich der Anteil der Kaiserschnitte an allen Geburten auf der Erde von zwölf auf 21 Prozent erhöht. Sprich jedes fünfte Kind wird inzwischen per Kaiserschnitt entbunden. Zwischen den Regionen der Welt gibt es dabei erhebliche Unterschiede. In West- und Zentralafrika kommen gerade mal 4,1 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt zur Welt, in Ost- und Südafrika sind es gerade mal 6,2 Prozent. Dagegen liegt die entsprechende Rate in manchen Teilen Lateinamerikas bei fast 60 Prozent. In Nordamerika sind es 32 Prozent, in Westeuropa 26,9 Prozent. Die meisten aus medizinischer Sicht unnötigen chirurgischen Eingriffe wurden in China und Brasilien lokalisiert. Als einen der wesentlichen Gründe für den Anstieg der Kaiserschnittrate führen die Forscher an, dass rund um den Globus immer mehr Frauen nicht mehr zu Hause, sondern in Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern oder Kliniken entbinden.
In der zweiten Studie, für die ein Team um die Geburtsspezialistin Jane Sandall vom Londoner Kings College verantwortlich zeichnete, wurden durch Auswertung von medizinischen Fachbeiträgen zwischen 1993 und 2018 die Folgen und Risiken aufgezeigt. Die Ergebnisse: Wenn bei einer Geburt Komplikationen auftreten, erhöht ein Kaiserschnitt fraglos die Überlebenschancen von Mutter und Kind. Zudem könne dank eines Kaiserschnitts die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Inkontinenz oder einer krankhaften Senkung der Beckenorgane nach der Geburt deutlich verringert werden. Allerdings seien mit dem Eingriff neben dem komplizierteren mütterlichen Heilungsprozess auch Risiken verbunden. Die Vernarbung der Gebärmutter könne bei nachfolgenden Schwangerschaften zu Komplikationen führen, beispielsweise zu abnormaler Entwicklung der Plazenta, Fehllage des Mutterkuchens, Eileiterschwangerschaften oder sogar Tot- oder Frühgeburten. Spätere Störungen im Bereich der Plazenta sind so etwas wie das Damoklesschwert der Schnittentbindung. Zudem gebe es Anzeichen dafür, dass bei Kaiserschnitt-Babys ein anderes hormonelles und bakterielles Umfeld entstehen kann, was Einfluss auf deren spätere Gesundheit haben könnte.
Bessere Planbarkeit der Geburt für Mutter und Klinik
Zu ähnlichen, fast deckungsgleichen Ergebnissen war auch schon eine im Januar in der Fachzeitschrift „Plos Medicine" veröffentlichte Untersuchung gekommen, die ein Team unter Leitung von Oonagh Keag der Royal Infirmary of Edinburgh durch Auswertung von 79 Studien mit knapp 30 Millionen Frauen erstellt hatte. Über die unmittelbaren Risiken des Kaiserschnitts wie Infektionen oder Thrombosen würden die Frauen demnach meist eingehend aufgeklärt. Die Langzeitfolgen würden hingegen von den Ärzten häufig noch zu wenig zur Sprache gebracht. Bei Kaiserschnitt-Babys konnten die Forscher bis zum Alter von zwölf Jahren ein erhöhtes Risiko für Asthma und bis zum Alter von fünf Jahren eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung von starkem Übergewicht nachweisen. Die Atemprobleme werden meist darauf zurückgeführt, dass bei vaginal entbundenen Kindern Flüssigkeitsreste quasi automatisch auf dem Weg durch den engen Geburtskanal herausgepresst werden, während sie bei Kaiserschnittgeburten im Organ verbleiben können. Selbst evolutionsbiologisch scheint die drastische Zunahme der Kaiserschnitt-Geburten direkte Auswirkungen zu haben. So hatte vor zwei Jahren ein Forscherteam um Philipp Mitteröcker von der Universität Wien herausgefunden, dass immer mehr Neugeborene mit einem für eine natürliche Geburt zu großen Kopf auf die Welt kommen. Während vor einem halben Jahrhundert noch rund drei Prozent der Kinder wegen ihrer Kopfgröße nicht durch den Geburtskanal passten, sind es inzwischen zwischen 3,3 und 3,6 Prozent.
In der dritten „Lancet"-Studie wurden unter Federführung der Medizinerin Ana Pilar Betrán von der WHO einige Gründe für den Anstieg der Kaiserschnittrate herausgearbeitet. Frauen würden demnach von sich aus häufig aus Angst vor Geburtsschmerzen oder möglichen Geburtsfolgen wie Beckenbodenschäden, Inkontinenz und weniger erfüllter Sexualität einen Kaiserschnitt wollen. Grundsätzlich würden sich die meisten Frauen zwar eine natürliche Geburt wünschen, was am besten durch vermehrte Aufklärung zur Wirkung von Entspannungstrainings oder über sachkundige Geburtsvorbereitungskurse gefördert werden sollte. Auch sollte die Position der Hebammen wieder mehr gestärkt werden. Schlüsselprobleme, die letztlich dann doch zu einem Kaiserschnitt führten, sind, so die Forscher, vor allem in ökonomischen und organisatorischen Faktoren des Gesundheitssystems zu finden. Die bessere Planbarkeit der Geburt spielt dabei für Mutter und Klinik dabei häufig die entscheidende Rolle. Eine vaginale Geburt kann durchaus schon mal sehr langwierig sein. Viele Frauen und Ärzte präferieren daher eine termingenaue Niederkunft.