Wo früher stabile Stahlseile für Aufzüge und Kräne gedreht wurden, bauen Techniker heute am Bildschirm entwickelte dreidimensionale Seilkonstruktionen für Kinderspielplätze. Die Berliner Seilfabrik ist Weltmarktführer auf ihrem Gebiet.
Mitten in der großen Auslieferungshalle steht wie ein Turm ein aufgerolltes, baumdickes, hellbraunes Seil. Es sieht so aus, als hätte es der Ausstatter eines „Indiana Jones"- Films bestellt: ein geflochtenes Hanfseil für eine Brücke über den Abgrund. „Das ist tatsächlich ein Seil für eine Brücke", sagt Produktionsleiter Jörg Prechter lächelnd. „Es ist unser Dschungelbrückenlaufseil, das wir auf Spielplätzen einsetzen. Es sieht nur aus wie Hanf, ist aber viel haltbarer als Stahl und Kunststoff." Wir sind in der Berliner Seilfabrik im Reinickendorfer Norden. Keine Firma hat mehr Erfahrung mit Netzspielgeräten und Kletterseilen für Spielplätze. Die Firma ist Deutschlands größter Spielgerätehersteller für draußen und auf ihrem Gebiet Weltmarktführer, also ein echter „hidden champion". 80 Prozent der Produktion gehen in den Export, und zwar in alle Welt.
Wie ist es dazu gekommen? Die Berliner Seilfabrik wurde 1865 gegründet. 30 Jahre zuvor war das Stahlseil erfunden worden. In Berlin wurde in die Höhe gebaut, es fuhren die ersten Aufzüge, und die Fabrik in Reinickendorf war eine der ersten, die die Stahlseile dafür lieferte. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm ein bayerischer Unternehmer, Pfeiffer Seil- und Hebetechnik, die Firma. Er beließ die Produktion aber, wo sie war, um von der Berlinzulage zu profitieren.
Die Fabrik sollte zugemacht werden
In den 70er-Jahren bat dann ein Architekt die Seilfabrik um Hilfe: Er wollte dreidimensionale Netzgebilde für Spielplätze bauen. Mit dem Know-how der Ingenieure aus der Fabrik konstruierte er das weltweit erste dreidimensionale Raumnetz aus Stahlseilen. Ende der 70er-Jahre kam Karl Köhler, der heutige Chef der Berliner Seilfabrik, in die Firma. Er war von den Möglichkeiten, mit den Stahlseilen zu experimentieren, von Anfang an begeistert. Als nach der Wende, in den 90er-Jahren, die Berlin-Subventionen versiegten, sollte der Standort in Reinickendorf geschlossen werden. Doch Köhler entschloss sich 1995, über eine langfristige Finanzierung die Firma zu übernehmen, verlegte den Schwerpunkt auf Spielgeräte und fing mit 13 Mitarbeitern neu an.
Inzwischen hat das Familienunternehmen 110 Beschäftigte. Sohn David Köhler ist Geschäftsführer, seine Frau Julia Köhler Marketingchefin. Karl Köhler, inzwischen 67, hat nichts von seinem innovativen Geist verloren, noch heute meldet er immer wieder neue Patente an. Wie etwa ein Kleeblattring aus Aluminium zum Spannen der Seile. Julia Köhler: „Der hat den Vorteil, dass man bei einer Beschädigung des Raumnetzes nach vielen Jahren nur einzelne Seilstränge austauschen muss." Sie weist auf die Besonderheit dieser Spielgeräte hin. „Bei einem Raumnetz, umgangssprachlich oft Spinnennetz genannt, können sich die Kinder nicht gegenseitig schubsen wie auf einer Plattform oder einer Leiter. Sie müssen sich immer mit Füßen und Händen an drei Punkten festhalten um weiterzukommen. Klettern verlangt Rücksichtnahme, es fördert Sozialverhalten." Immerhin sind die Klettertürme, die die Seilfabrik herstellt, bis zu zwölf Meter hoch. Da sollte man schon vorsichtig sein. Doch auch sie müssen so gut abgesichert sein, dass kein Kind höher als drei Meter auf weichen Grund fallen darf. Das schreibt eine DIN-Norm vor, die mittlerweile als Spielgerätenorm fast überall auf der Welt Schule gemacht hat. Dazu gehört auch ein regelmäßiger Sicherheitscheck. „Wir übernehmen neben der Montage der Spielgeräte auch Wartung und Service, wenn der Kunde das wünscht", sagt Julia Köhler.
Seit 2008 gibt es eine eigene Niederlassung in den USA, die Firma ist präsent auf Messen in aller Welt, liefert Spielgeräte nach Australien, Neuseeland, Israel, Thailand, Vietnam – selbst in China ist man bereits dabei. Jörg Prechter, der Produktionsleiter: „Wir schicken jeden Tag mehrere Kisten mit Spielgeräten auf die Reise und alle zwei oder drei Wochen einen Seecontainer mit Raumnetzen in die USA auf die Reise." Gespannt und aufgebaut werden die Spielgeräte erst vor Ort.
Maschinen flechten die Seile
Der gelernte Industriemechaniker und Betriebswirt führt uns dorthin, wo die Seile entstehen. „Nein, Seiler beschäftigen wir nicht, das ist leider ein aussterbender Beruf. Den Job erledigen bei uns Maschinen." Mit einem Höllenlärm rattern die Stahlungetüme los: Eine Maschine wickelt Kunststoff-Stränge um eine „Einlage", das ist ein je nach Seildicke dünnes oder kräftigeres Stahlseil. So entstehen die „Außenlitzen". Vier oder sechs von diesen Außenlitzen wickeln sich auf einer noch größeren Maschine dann um eine weitere Einlage. Heraus kommt am „Verseilpunkt" ein geflochtenes solides Stahlseil – so wie wir es auch aus Aufzugtürmen kennen. Nur dass hier die Seile bunt sind.
„Die Maschinen stammen noch aus den 1950er-Jahren", erläutert Jörg Prechter. „So etwas wird heute nicht mehr gebaut. Wir haben sie behalten, weil sie nach wie vor perfekt laufen und weil wir sie bei Bedarf immer wieder neu richten und reparieren können." Wie viel Seil sie in dem Jahr denn schon so produziert haben? „Mit der großen Maschine rund 750 Kilometer, mit der kleineren, die die Außenlitzen herstellt, etwa 2.000."
Eine Station weiter werden aus den Stahlseilen Netze. Eine computergesteuerte Maschine schneidet die Seile in der richtigen Länge zu. Wenn die Stücke verbunden werden müssen, erledigt das eine Verpressungsmaschine: Sie drückt mit 100 Tonnen Gewicht Alupressklemmen auf die Seilenden. „Hier finden Sie keine Schrauben oder Stifte. Die Seile werden nur von außen bearbeitet, damit kein Rost ins Innere dringt", erläutert Jörg Prechter.
Die Modelle für die Netze entstehen in der Designabteilung. Dort sitzen 14 Entwickler an großformatigen Bildschirmen und stellen Spielgeräte nach den Wünschen der Kunden zusammen. Manchmal wird ein Motto gewünscht – Dschungel, Blumen, Bäume, Drachen –, nach dem der Platz gestaltet werden soll. Manchmal stellen die Kunden einfach den Platz vor, wo die Spielgeräte hinkommen sollen, und lassen sich Vorschläge machen. Zunehmend geht die Firma auch dazu über, Rutschen, Elemente aus Bambus, Wippen und Schaukeln mit ihren Netzen zu kombinieren, um daraus ein Gesamtangebot zu machen.
Julia Köhler: „Unsere Kunden sind die Kommunen, aber auch Schulen, Kitas, Hotels, Freizeitparks, Museen, Firmen, die etwas Besonderes für ihre Zentralen suchen. Natürlich müssen wir uns auch an Ausschreibungen beteiligen – das ist das normale Geschäft." Sie hat die Erfahrung gemacht, dass man in Deutschland eher weniger für Spielplätze ausgibt. „Pro Kopf wird in anderen Ländern mehr Geld für Spielplätze gezahlt, das geht schon mal in sechsstellige Höhe für einen Platz. In Deutschland ist ein Projekt mit 30.000 bis 50.000 Euro ein guter Auftrag."
Wie baut man Inklusions-Spielplätze?
Die Firma legt Wert auf ihren Claim: Spielgeräte fürs Leben. „Unsere Spielplätze werden für Generationen gebaut", heißt es in der Firmenbroschüre, das schone die Umwelt und spare Ressourcen. Klar, Kunststoff-Stahlseile halten länger als Holz, Hanfseile oder blankes Metall. Aber so ein Seil fasst sich eben auch anders an als ein Spielgerät aus natürlichem Material. Es ist ein technisches Produkt. Den Kunststoff für die Ummantelung lassen sie sich liefern, alles andere entsteht in der Fabrik selbst. Der Stahl besteht zu 70, das Aluminium zu 85 Prozent aus recyceltem Material. Die Bambuspaneele sind haltbarer als Holz. Und Lösungsmittel gibt es in der Fabrik nicht.
Der neue Trend für die Spielgeräte, sagt Jörg Prechter, geht in Richtung immer
höher, abenteuerlicher und interessanter. „Wir haben für die K2-Kartoffelchips Erlebniswelt in Elshagen Kletterkartoffeln konstruiert, die über den Tischen im Besucherrestaurant hängen und begehbar sind. Oder für Swarowskis Kristallwelten in Österreich in einem Kletterturm vier Etagen mit einem fast 100 Quadratmeter großen Netz verbunden." Das sind zwei von vielen Highlights in der Firmengeschichte. Aber es komme auch noch etwas anderes auf sie zu, meint Jörg Prechter. Das Thema Inklusion. Auch ein Kind, das in einem Rollstuhl sitzt, sollte die Möglichkeit haben, sich mit einem Spielgerät zu beschäftigen. Dafür sind Ideen gefragt, damit ein Spielplatz auch die motorischen Fähigkeiten unterschiedlich behinderter Kinder berücksichtigt. Eine eigene Beraterin unterstützt die Firma bei der Planung solcher Spielangebote.
Wenn man die Seilfabrik wieder verlässt, denkt man unwillkürlich, wie viel mehr ein Spielplatz sein kann als die übliche Rutsche, eine quietschende Schaukel, ein schmutziger Sandkasten und dazu ein paar Bänke für die Erwachsenen. Kaum vorstellbar, dass so ein Platz Kindern Spaß macht. Wer Kindern nichts bietet, braucht sich nicht zu wundern, wenn sie nicht kommen und so ein Platz in Gefahr gerät zu vermüllen. Die Philosophie der Seilfabrikanten könnte lauten: Nur ein Spielplatz, der wirklich etwas bietet – mit einem Dschungelpfad, einem Kletterturm oder gespannten Netzen wird auch benutzt. Etwas, das einem was wert ist, lässt man nicht verkommen.