Zu wenig bezahlbarer Wohnraum: Mit diesem Problem haben sowohl Berlin als auch Washington D.C. zu kämpfen. In beiden Hauptstädten entstehen gerade neue Stadtviertel – ein Vergleich.
Flache Holzboote, die an einem Pier anlanden, Pferdefuhrwerke, die darauf warten, beladen zu werden, im Hintergrund eine Stahlbrücke über den Fluss: So sah es am Ufer des Potomac River in Washington D.C. vor gut 100 Jahren aus. Hier nämlich brachten die Schiffer ihre wertvolle Fracht an Land – Austern aus der Chesapeake Region, die nun an Händler auf dem Fischmarkt oder an Restaurants verkauft werden konnten.
Zuvor allerdings mussten die Schalen geöffnet werden, in einem sogenannten Oyster Shed, einem flachen Gebäude. Arbeiterinnen in langen Schürzen reinigten hier die frischen Austern quasi in Akkordarbeit. Das Austerngeschäft, überhaupt der Handel mit frischem Fisch, erlebte an diesem Standort seinen Boom in den 20er- und 30er-Jahren; zu einem Zeitpunkt, als das umgebende Viertel vor allem von Lagerschuppen und Werkstätten, ungepflasterten Straßen und Wohnhäusern in baulich schlechtem Zustand geprägt war. Immer wieder kam es zu Bränden, lagerte doch hier entflammbares Material dicht an dicht. Pläne, die „Waterfront" zu einem Boulevard umzugestalten, schlugen fehl – im Gegenteil, steigende Kriminalität und Armut sorgten für einen schlechten Ruf des Viertels. Schließlich gründete die Stadt die Entwicklungsgesellschaft „Redevelopment Land Agency", die zunächst über 20.000 zumeist afro-amerikanische Bewohner des Viertels umsiedelte – ebenso rund tausend kleine Geschäfte oder Betriebe. Dabei wurden über Jahrzehnte gewachsene Nachbarschaften zerstört, auch ein Stückchen afro-amerikanische Kultur, sagen Kritiker. Der Straßenverlauf einer der Hauptverkehrsadern durchs Viertel wurde geändert, eine Promenade am Flussufer angelegt ebenso wie mehrere Parks.
Auslosung von Wohnungen
Richtig angenommen wurde dieser Teil der Stadt als Freizeit- oder gar Ausgehviertel dennoch nicht – so erzählen es Einheimische wie Ana und ihre Freundin Claire. Einige etwas versteckte Barbecue-Bars habe es zwar gegeben. Ein bisschen unsicher habe man sich hier unten am Fluss aber immer gefühlt.
Das freilich ist seit einem guten Jahr ganz anders. Denn zwei Bauplanungsunternehmen haben am Potomac River mit „The Wharf" ein ganz neues Wohnviertel entwickelt. Ein Viertel, das zudem auch noch Büros, Geschäfte, Hotels, Restaurants und Veranstaltungsorte wie „The Anthem" beherbergt. „Mixed Use", also für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten – so lautet das Motto für das Zwei-Milliarden-Projekt, das im Oktober vorigen Jahres eröffnet wurde. Feierlich, mit einem riesigen Spektakel für alle Washingtoner – unter anderem trat Schauspieler Kevin Bacon mit seiner Band auf.
Von Anfang an sei es darum gegangen, einen Ort zu schaffen, an dem ganz unterschiedliche Menschen aus der Stadt und natürlich Touristen zusammenkommen und sich austauschen können, sagt Matt Jahromi von der District-Wharf Community Association. Dazu gehöre es, dass ein großer Teil der hier entstandenen Wohnungen zu relativ moderaten Preisen verkauft, beziehungsweise vermietet wurde. Von den rund 650 Wohnungen in den verschiedenen Gebäudekomplexen sind 200 zu Konditionen vermietet, die sich nach dem sogenannten MFI (Median Family Income) richten, dem statistischen Familiendurchschnittseinkommen. So werden beispielsweise 62 der Apartments für 30 Prozent dieses statistischen Monatseinkommens vermietet – was einer Miete ab 533 Dollar pro Monat entspricht. Oder anders gerechnet: Eine dreiköpfige Familie, die im Jahr über ein Einkommen von rund 30.000 Dollar verfügt, könnte mit Glück eine der kleineren Wohnungen direkt am Potomac-Fluss beziehen. Wobei Glück keine unerhebliche Rolle spielt. Die längst eingezogenen Mieter der 200 „bezahlbaren" Wohneinheiten waren ausgelost worden. Wie knapp der Wohnungsmarkt vor Ort ist, zeigt die Bewerberzahl: Rund 4.000 hofften auf den Zuschlag.
In der Spandauer Wasserstadt
Ob es eine ähnliche Lotterie auch für die 2.500 Wohnungen geben könnte, die im Neubau-Quartier „Waterkant" am Havelufer in Berlin-Spandau entstehen sollen? Wohl eher nicht, obwohl der Run auf die Apartments vermutlich vergleichbar mit dem in Washington sein wird. Bei der Konzeption des Wohnbauprojekts zwischen Spandauer Altstadt und Tegeler Forst stand von Anfang an fest, dass gut die Hälfte der Wohnungen im preisreduzierten Segment des geförderten Wohnungsbaus angeboten werden, zu einem Quadratmeterpreis ab 6,50 Euro. Damit richte man sich nach der Kooperationsvereinbarung, die alle landeseigenen Wohnungsunternehmen unterzeichnet haben, sagt Martin Püschel von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte WBM. Sie ist für einen der Bauabschnitte zwischen Daumstraße und Havelufer zuständig. Insgesamt sollen in der Spandauer Wasserstadt in den nächsten Jahren von WBM und Gewobag sowie von privaten Investoren etwa 7.500 Wohnungen neu gebaut werden, inklusive passender Infrastruktur. Vieles muss dabei beachtet werden: Wie beispielsweise mit dem denkmalgeschützten Gebäude der ehemaligen Königlichen Pulverfabrik umgehen, das mitten in dem neu entstehenden Viertel liegt? Noch ist nicht über die zukünftige Nutzung entschieden, erst einmal werde das Ensemble aber behutsam saniert, sagt Püschel. Man denke über eine spätere gastronomische Nutzung des historischen Gebäudes nach.
Auch solche Überlegungen ziehen eine Parallele zu dem in zwölf Monaten geradezu trendy gewordenen Viertel „The Wharf" in Washington D.C.: Dort werden gerade der historische „Oyster Shed" und der „Lunch Room", eine Art Kantine für die Schiffer, restauriert. Eine Destillerie aus der Region will hier einziehen, ein Austernrestaurant könnte es zukünftig auch geben. Passend, denn schräg gegenüber liegt nach wie vor der Fischmarkt, der an dieser Stelle seit Beginn des 19. Jahrhunderts existiert. Nach wie vor gibt es in einem halben Dutzend Stände auf kleingehacktem Eis frische Meeresfrüchte, Krabben aller Größen und Fische vorwiegend aus dem Atlantik. „The Wharf", das sei auch die Verbindung zwischen Historie des Stadtteils, zwischen Tradition und Neuem, sagt Matt Jahromi von der District Wharf Community Association. Und der Versuch, das Flussufer wieder zu einem öffentlichen Raum zu machen: So sind drei breite Piers entstanden, die Platz für unterschiedlichste Aktivitäten bieten, vom Rock-Konzert bis zur offenen Yoga-Klasse für alle, die dazu gerade Lust haben. Wassertaxis verbinden „The Wharf" mit Washingtons Stadtviertel Georgetown, aber auch mit nahe gelegenen Orten wie Alexandria in Virginia und National Harbor in Maryland. Und eine kleine Fähre kreuzt zwischen dem neuen Stadtteil und dem gegenüberliegenden East Potomac Park. Der bietet als Naherholungsgebiet nicht nur mehrere Sporteinrichtungen, sondern auch kostenfreie Parkplätze. Natürlich verfügt das Areal von „The Wharf" mit seinen knapp zehn Hektarn Fläche auch über Tiefgaragen vor allem für die Fahrzeuge der Anwohner. Besucher werden aber ermutigt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu kommen. Dazu verbindet ein kostenloser Bus-Shuttle das Viertel am Fluss mit der Metro sowie mit der National Mall und ihren Sehenswürdigkeiten.
Mit Bus und Bahn schlecht erreichbar
Verkehrschaos, Probleme mit dem Lieferverkehr, vollgeparkte Straßen im Quartier? In „The Wharf" Fehlanzeige, obwohl hier mehrere Tausend Menschen leben und arbeiten, die Restaurants besuchen oder einfach zum Spazieren auf die Promenade kommen. Vielleicht wäre das Washingtoner Stadtquartier somit kein schlechtes Vorbild für das Wohnbauprojekt „Waterkant" an der Berliner Havel. Das ist mit öffentlichem Nahverkehr noch mehr schlecht als recht zu erreichen, doch das soll sich ändern – schließlich werden auch hier bis 2025 einige Tausend Menschen mehr wohnen. Im Entwurf für den Nahverkehrsplan 2019 bis 2023 steht eine neue Tram-Linie, vom Bahnhof Jungfernheide über die Wasserstadt Spandau bis zum Rathaus Spandau. Das könnte bis 2035 Wirklichkeit werden. Damit bis dahin kein Verkehrschaos im neuen Stadtviertel am Havelufer tobt, soll das Forschungsprojekt „Move Urban" in Kooperation mit der TU Berlin und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt ein neues Mobilitätskonzept entwickeln. Dazu gehört unter anderem der Einsatz von Elektrofahrzeugen sowie ein ausgeklügeltes Car- und Bike-Sharing-Angebot. Zudem werde relativ schnell eine Fahrradtrasse für den Anschluss zum U-Bahnhof Haselhorst sorgen, sagt Martin Püschel von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte.
Die Verkehrsanbindung neuer Stadtquartiere ist das eine, die Versorgung der Bewohner mit allem, was man für den Alltag so braucht, das andere – vom Supermarkt über den Arzt bis zur Postfiliale. Und hier zeigt sich der größte Unterschied zwischen den in vielem ja ähnlichen Hauptstadt-Planungen: Während der Bezirk Spandau für die Berliner Wasserstadt ein Stadtteilzentrum mit Jugendfreizeiteinrichtung und Arztpraxen plant, steht in Washington schon in der Planungsphase des zweiten Abschnitts von „The Wharf" das „Mixed Use"-Konzept im Vordergrund. Was dort sowohl den Bau von Wohnungen, Hotels und Büros bedeutet als auch die touristische Nutzung des neuen Viertels: Denn zu den Restaurants, den Geschäften mit teilweise originellen lokalen Designprodukten und den Veranstaltungen kommen jetzt schon Tausende Besucher aus dem In- und Ausland. Tendenz steigend.