Hochbegabung gilt als Reizwort. Denn neben außergewöhnlich klugen Köpfen ist oft von gelangweilten und störrischen Kindern die Rede – und von Eltern, die sich wünschten, ihr Kind sei ein seltenes Talent. Was ist Mythos und was ist Wahrheit?
Störrisch seien sie und könnten nicht stillsitzen. Sie zögen sich zurück oder würden verhaltensauffällig – um hochbegabte Kinder ranken sich jede Menge Mythen. Und die halten sich so hartnäckig, dass zahlreiche Eltern verhaltensauffällige Sprösslinge zu IQ-Tests zerren und andere wiederum gar nicht erst zu Tests erscheinen, aus Sorge, ihrem Kind könnte der Intelligenzquotient wie ein Außenseiter-Stempel auf der Stirn prangen. Doch was ist dran an diesen Mythen? Wer gilt bei uns als hochbegabt, wie aussagekräftig sind aktuelle Tests? Und warum tun wir uns so schwer im Umgang mit ungewöhnlichen Talenten?
130: Das ist die Zahlenmarke, die man minimal bei einem IQ-Test erreichen muss, um als hochbegabt zu gelten. Das trifft in Deutschland auf rund zwei Prozent der Bevölkerung zu. Als Kinder lernen Hochbegabte rasend schnell und brillieren oft auf speziellen Interessensgebieten wie etwa Musik, Mathematik oder Naturwissenschaften. Viele von ihnen erledigen die Anforderungen des Schulunterrichts mit links. Daneben allerdings gibt es auch die sogenannten Underarchiever: Kinder, die schulisch nicht so viel leisten, wie man aufgrund ihres hohen Intelligenzquotienten erwarten würde. Einige von ihnen gelten als störrisch oder verhaltensauffällig. Sie machen ihre Hausaufgaben nicht immer ordentlich, ihnen unterlaufen Fehler bei einfachen Aufgaben und sie verhalten sich oft unangepasst.
Verhaltensprobleme seien jedoch noch lange kein Indiz für Hochbegabung. Detlef Rost, Gründer der Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle Brain in Marburg, hält viele Vorstellungen von Hochbegabung für falsch. Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern etwa kontaktieren ihn häufig. Bei 60 Prozent der Kinder, die ihm vorgestellt werden, kann der Experte jedoch keine Hochbegabung feststellen. Stattdessen trifft er auf enttäuschte Eltern, die den Einschätzungen von Pädagogen und Kinderärzten zum Trotz an dem Glauben festhalten wollen, dass ihr Sprössling zu den zwei Prozent der Hochbegabten zählt.
Ab einem IQ von 130 gilt man als hochbegabt
Auch Langeweile in der Schule sei nicht zwingend ein Zeichen für höhere Intelligenz. Viele Kinder würden sich langweilen, weil der Unterricht schlecht sei oder sie überfordert wären. Bei manchen Hochbegabten hingegen trifft das zu – sie werden erst wach, wenn es schwierig wird.
Über ein Vierteljahrhundert hat der Marburger Intelligenzforscher Rost 151 hochbegabte Kinder vom dritten Schuljahr an beobachtet. Sein Ergebnis spricht gegen die gängigen Klischees: Hochbegabte Kinder seien in der Regel nicht die Außenseiter, die Probleme machen. Neun von zehn seiner Probanden schrieben gute Noten, seien sozial gut integriert und angepasst. Sie seien weder ängstlicher noch hätten sie mehr Allergien als andere Kinder. Auch wollten sie nicht unentwegt über Erwachsenenthemen sprechen und würden an der Regelschule nicht zwingend depressiv.
Dennoch sind auch Lehrer in der Beurteilung der Hochbegabten unsicher, wie die Psychologin Franzis Preckel, Leiterin des Lehrstuhls für Hochbegabtenforschung der Universität Trier, in ihren Untersuchungen herausfand. Die Pädagogen hielten die Schüler zwar für leistungsstark, aber auch für sozial isoliert, schwierig und verhaltensauffällig. Und neben den Eltern, die sich fest wünschen, ihr Kind sei ein Ausnahmetalent, gibt es auch zahlreiche, die sich schwertun mit dieser Diagnose. Sie erfahren, dass man ihnen elitäres Verhalten unterstellt und ihnen vorwirft, dass sie sich und ihre Kinder für etwas Besseres hielten. Die Kinder erlebten teils Ausgrenzung und Mobbing, sobald ihnen der Stempel des Überfliegers auf der Stirn klebt. Viele Begabungsforscher meiden den Begriff „Hochbegabung" ganz und sprechen stattdessen eher von Motivation oder Talenten. Der Hirnforscher Gerald Hüther vertritt gar die Auffassung, jedes Kind sei hochbegabt, man müsse es nur richtig fördern.
Woher aber kommen die Vorurteile und das Unbehagen gegenüber Hochbegabung? Eine mögliche Erklärung führt zurück in die deutsche Vergangenheit – direkt rein in den Nationalsozialismus. Das Elitedenken der Nationalsozialisten hat damals bis zur Euthanasie Behinderter geführt. In den Nachkriegsjahren waren Ideen und Fragen zur geistigen Überlegenheit Einzelner mehr als heikel. Gelockert hat sich das erst in den 70er-Jahren, als die Medien zunehmend über hochbegabte Kinder berichteten. Gleichzeitig häuften sich auch die Fallgeschichten über die Underachiever, die chronisch unterfordert waren und im Unterricht negativ auffielen.
Wie aber lassen sich gelangweilte und verhaltensauffällige Kinder von hochbegabten Kindern unterscheiden? Neben den bereits gängigen IQ-Tests haben Forscher der University of Rochester einen weiteren Test entwickelt, der sich auf die optische Wahrnehmung konzentriert. Sie fanden heraus, dass Probanden mit einem höheren Intelligenzquotienten zwar schneller erkennen konnten, dass sich ein Bild mit Streifen bewegte, die Dinge im Hintergrund erkannten sie jedoch deutlich langsamer als Personen mit niedrigerem IQ. Die Erklärung der Wissenschaftler: Bei intelligenteren Menschen filtere das Gehirn unwichtige Informationen heraus. Diese würden erst gar nicht verarbeitet. Bisherige IQ-Tests erhalten im Gegensatz zu dem Verfahren der US-Forscher auch verbale Aufgaben und sind meist auf Menschen aus unserem Kulturkreis zugeschnitten. Sie erhoffen sich deshalb, mit ihrer Methode eine kulturunabhängige Test-Variante entwickelt zu haben.
Erst ab dem Jugendalter gilt die Intelligenz als relativ stabil
Die Kinderpsychiaterin Marie-Noelle Garny-Tardy hat sich auf die Probleme hochbegabter Kinder spezialisiert und sieht bei den IQ-Tests noch ein anderes Manko. Entwicklungsstörungen, wie etwa eine Lese- und Rechtschreibschwäche oder mangelhafte Orientierung im Raum, die Kinder unabhängig ihres Begabungsgrades treffen, verfälschten die Tests. Erzielt ein junger Proband etwa herausragende Ergebnisse bei der verbalen Intelligenz, schneidet aber bei einer Aufgabe zur Orientierung im Labyrinth schlecht ab, fällt das Testergebnis insgesamt mittelmäßig aus und die Begabung bleibt unerkannt.
Darüber hinaus ist auch das Testalter der Probanden relevant. Im Grundschulalter kann der IQ-Wert noch um bis zu 20 Punkte schwanken. Erst vom frühen Jugendalter an gilt die Intelligenz als relativ stabil. Als hochbegabt getestet werden zudem häufiger Jungen – sie fallen mehr auf. Die Begabung von Mädchen, insbesondere solchen aus Migrantenfamilien, wird nach wie vor seltener erkannt und gefördert.
Eltern, die bei ihren Kindern eine Hochbegabung vermuten, finden im Internet zahlreiche Checklisten. Experten raten jedoch von selbigen ab, die meisten seien irreführend oder zu vage formuliert. Eine schnelle Auffassungsgabe, Neugierde, Wissensdurst, ein sehr gutes Sprachverständnis und einen altersunüblichen Wortschatz hingegen hält die Psychologin Preckel für Verdachtsmomente.
Kinderpsychiaterin Garny-Tardy plädiert für flächendeckende Untersuchungen noch vor der Einschulung. Weitere Tests solle man in der Grundschule sowie in der Mittelstufe des Gymnasiums durchführen, um Kandidaten zu entdecken, die in vorherigen Tests etwa wegen schlechter Tagesform durchgefallen sind. Vor allem aber sei auch die Gesellschaft gefragt, ihre Perspektive auf besondere Talente zu überdenken. Denn letztlich, so Garny-Tardy, profitierten alle. Dann nämlich, wenn Hochbegabte später Höchstleistungen auf technischem, künstlerischem, sportlichem oder wissenschaftlichem Gebiet erzielten.