Die deutschen Handballerinnen mussten pünktlich zur Europameisterschaft einen herben Verlust verkraften. Das stark verjüngte Team tritt ohne ihre verletzte Kapitänin an.
Nach 140 Sekunden wird für Kim Naidzinavicius der Traum von der Heim-Weltmeisterschaft zum Albtraum. Eröffnungsspiel gegen Kamerun, die Rückraumspielerin kracht mit einer Gegnerin zusammen, fällt zu Boden – und spürt sofort den stechenden Schmerz. Kreuzbandriss im Knie, WM-Aus, viele Tränen. Von dem Schock erholt sich das Handball-Nationalteam der Frauen nicht mehr so recht, im Achtelfinale ist Schluss.
Naidzinavicius muss tatenlos mit anschauen, wie sich ihre Teamkolleginnen beim großen Heimturnier etwas unter Wert verkaufen. Jetzt, ein Jahr später, wollte Naidzinavicius die Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich (30. November bis 16. Dezember) zum Erfolg führen. Das Knie war verheilt, die Motivation größer denn je. Denn die 27-Jährige von der SG BBM Bietigheim ist inzwischen zur Kapitänin aufgestiegen.
Doch dann die schlimme Nachricht zwei Wochen vor dem ersten Anwurf: Naidzinavicius sagte ihre Teilnahme wegen eines Risses des Innen- und Außenmeniskus ab: „Ich bin unendlich traurig, dass ich die EM verpasse." Die Verletzung hatte sich die Bietigheimerin in einem Champions-League-Spiel zugezogen.
Mia Zschoke muss schnell lernen
Der Frauen-Bundestrainer Henk Groener war „sehr betroffen", aber vor allem für Naidzinavicius selbst sei die Verletzung „sehr tragisch, da sie zum zweiten Mal in Folge ein Turnier verpassen wird". Der Bundestrainer muss nun improvisieren, denn die Rückraumspielerin war auf dem Feld und in der Kabine als unersetzlicher Fixpunkt vorgesehen. „Mit Kim fällt nicht nur unsere Kapitänin, sondern auch eine Schlüsselspielerin aus, die in unseren Plänen natürlich eine wichtige Rolle gespielt hat", sagte Groener.
Als Ersatz nominierte der Bundestrainer die Leverkusenerin Mia Zschocke nach. Die 20-Jährige habe in der Lehrgangswoche im September wie auch in den Spielen gegen Russland „einen sehr positiven Eindruck hinterlassen", sagte Groener: „Sie ist zwar noch sehr jung, aber hoch talentiert und hat daher unser vollstes Vertrauen. Die Erfahrungen, die sie bei der EM machen wird, werden ihr in ihrer Entwicklung sehr helfen."
Eine Naidzinavicius, die in 92 Länderspielen 209 Tore erzielte, kann Zschocke aber bei allem Talent nicht eins zu eins ersetzen. Mit ihren 27 Jahren war sie eine der wenigen erfahrenen Spielerinnen im DHB-Team, das sich nach den vielen Rücktritten früherer Leistungsträgerinnen wie Isabell Klein, Clara Woltering oder Anna Loerper im Umbruch befindet. Gleich sechs Spielerinnen werden in Frankreich ihr EM-Debüt geben. Die neue Hierarchie ist eine Gefahr für die Stabilität im Team – aber auch eine Chance. Spielerinnen wie Ausnahmetalent Emily Bölk erhalten mehr Einsatzzeit und Freiräume.
„Wir haben eine Mannschaft zusammen, die ihre Stärke in der Ausgeglichenheit hat, denn wir können auf allen Positionen gut wechseln", sagt Bundestrainer Groener mit Zuversicht vor dem EM-Start. DHB-Vorstandsmitglied Axel Kromer gibt der neu formierten Mannschaft kein konkretes Ziel mit auf den Weg nach Frankreich, aber er erwartet „Spielfreude, Unbekümmertheit und Selbstbewusstsein".
Zum Auftakt ins Turnier am 1. Dezember wartet in Rekord-Europameister Norwegen allerdings ein schwerer Gegner, der die gute Stimmung im Team mit einem Schlag zunichtemachen könnte. „Wir können gegen alle Mannschaften ein Spiel offenhalten und um den Sieg spielen, auch wenn unser Team noch recht unerfahren auf großen Turnieren ist", sagt Groener. Der Einzug in die Hauptrunde sei angesichts der weiteren Gruppengegner Rumänien und Tschechien ein realistischen Ziel: „Wir haben eine Nationalmannschaft mit guter Moral und hohem Einsatz, die maximales Tempo geht. Wir werden eine schöne, spektakuläre EM erleben."
Optimismus verbreiteten auch die beiden Testspiele gegen Russland Ende September. Gegen den amtierenden Olympiasieger musste sich die deutsche Auswahl zwar zweimal (31:35 und 33:36) knapp geschlagen geben, sie wusste aber vor allem in der Offensive zu überzeugen. 30 Tore und mehr lassen die Russinnen nicht oft zu. „Wir haben gerade im Tempospiel nach vorne viele Sachen gut gemacht", sagte Naidzinavicius, die in der EM-Vorbereitung lieber knappe Niederlagen gegen Top-Teams kassiert als gegen schwache Konkurrenz zu glänzen: „Wir wollen uns mit den Besten messen. Bei der Europameisterschaft warten auch harte Brocken auf uns. Deswegen helfen uns solche Spiele weiter."
Sie selbst kann nicht mehr helfen. Dabei spielte die frühere U20-Weltmeisterin bei ihrer Rückkehr gegen Russland so, als wäre sie nie weg gewesen. Sie war torgefährlich und hatte im Rückraum gute Ideen. Ihr Ausfall hinterlässt eine große Lücke, die nun andere füllen müssen. Die erst 20-Jährige Emily Bölk dürfte nun noch mehr Verantwortung tragen als ohnehin schon. Das meistert sie, glaubt Ex-Nationalspielerin Isabell Klein: „Das Mädchen hat unglaubliches Talent, das ist krass!"
„Unglaubliches Talent"
Manche Medien heben Bölk sogar in den Stand eines Jahrhunderttalents. Fakt ist: Die wurf- und sprunggewaltige Rückraumspielerin bringt alles für eine Weltklasse-Karriere mit. Das fängt schon bei den Genen an, ihre Eltern Andrea und Matthias spielten beide in der Bundesliga. Ihr Mutter absolvierte sogar 201 Länderspiele und gewann 1993 den WM-Titel.
„Ich habe auch mit 16 in der ersten Liga angefangen, sie hat meine Größe und meine Athletik, und wir spielen auf der gleichen Position im Rückraum in der Mitte oder halblinks", vergleicht sich Andrea Bölk mit ihrer Tochter. Auch ihre eigene Mutter war in der früheren DDR eine Handball-Nationalspielerin.
Kein Wunder, dass die kleine Emily „ständig in die Handballhalle mitgeschleppt" wurde. Als Vierjährige begann sie das Training beim Buxtehuder SV, „seitdem liebe ich den Handball und kann nicht mehr ohne".
Seit sich Emily Bölk in diesem Jahr vom Heimatverein getrennt und zum Thüringer HC gewechselt ist, trainiert und spielt die 1,82 Meter große Athletin auf einem deutlich besseren Niveau. Bölk hätte fast überall hin wechseln können. Auch europäische Spitzenclubs zeigten starkes Interesse an dem „Küken", das aus der zweiten Reihe so kraftvoll werfen kann und sich von niemandem einschüchtern lässt. Doch Bölk wollte nicht gleich zwei Schritte auf einmal gehen. Schon der Umzug nach Erfurt war für sie nicht leicht. „Im Vergleich zu Buxtehude ist das eine große Stadt", sagt sie: „Aber ich mag diesen Trubel."
In ihrer neuen Wahlheimat will sich Bölk aber vor allem sportlich weiterentwickeln. „Ich bin gekommen, um Titel zu gewinnen", sagt sie selbstbewusst. Auch die Aussicht auf Champions-League-Spiele haben für den THC den Ausschlag gegeben. Und in Bundesliga-Rekordwerferin Iveta Luzumova (Tschechien) hat sie eine Spielerin im eigenen Team, „von der ich nur noch mehr lernen kann".
Schwere Gruppe für das Team
Im Nationalteam schauen die meisten zu ihr auf. Bei der Heim-WM wurde Bölk anfangs noch geschont, bei der EM soll sie von Beginn an den Ton angeben. Die Verantwortung und auch das rege Interesse nationaler und internationaler Medien nimmt sie souverän auf. „Natürlich ist das ein zusätzlicher Stress", sagt sie, „aber ich mache das gern. Sobald ich dann die Halle betrete, ist das kein Thema mehr."
Für die EM ist Bölk optimistisch – trotz der Personalsorgen. „Wir sind im Umbruch, aber ich glaube, die Mannschaft wächst schnell zusammen." Allerdings wartet auf das junge Team die schwere Gruppe D. Gleich zum Auftakt am 1. Dezember kommt es zum Duell gegen Titelverteidiger Norwegen, zwei Tage später wartet Rumänien als Gegner. Zum Gruppenabschluss messen sich die Handball-Frauen am 5. Dezember mit Tschechien. Dann trifft sich Bölk mit ihrer Vereinskollegin Luzumova auch zum privaten „Duell".
Die ersten drei Mannschaften qualifizieren sich für die Hauptrunde in Nancy, die am 7. Dezember startet. Die Spiele werden im Internet bei sportdeutschland.tv übertragen. Während die Live-Berichterstattung von den großen Turnieren der Männer-Nationalmannschaft in der ARD und im ZDF bis 2025 gesichert ist, müssen die Frauen um jeden Zuschauer kämpfen. Eine erfolgreiche Europameisterschaft, vielleicht ja sogar die erste Medaille seit 24 Jahren, wäre da Gold wert. Doch die Vorzeichen stehen durch die erneute Verletzung von Naidzinavicius schlecht.