Soll Deutschland den UN-Migrationspakt unterschreiben? Kurz vor dem Unterzeichnungstermin im Dezember wird der Streit darüber immer emotionaler. Er artet in ein Lehrstück aus, wie man mit öffentlichen Diskussionen nicht umgehen sollte.
Die Gerüchte schießen ins Kraut: Kein Land könne mehr selbst entscheiden, wen es aufzunehmen hätte, wenn der neue Migrationspakt unterschrieben wird. Der Pakt würde Migranten in Scharen anlocken, nur ihre Rechte würden gestärkt. Wirtschaftsmigranten würden weltweit Flüchtlingen gleichgestellt, Tor und Tür stünden mit dem Pakt allen überallhin offen.
Dass solche Thesen so einschlagen, hat einen Hintergrund, den der grüne Tübinger OB Boris Palmer – auch in seiner eigenen Partei durchaus umstritten – zu Recht anmahnt: Eine öffentliche Diskussion gab es bislang nicht. Das fällt den Unterzeichnern in spe – aktuell vor allem den drei Bewerbern um den CDU-Chefposten – nun prompt und zu spät auf die Füße. Was ebenso stimmt: Kaum jemand kennt den Originaltext. Das allermeiste, was man so hört und liest, ist schon eine Deutung herausgepflückter Textpassagen. Wobei man dazusagen muss: Da ja an die 180 Staaten weltweit zustimmen sollen, Staaten aus allen Kontinenten, sind viele Formulierungen sehr unscharf gehalten. Das macht eine Auslegung in die eine oder andere Richtung natürlich leichter – andererseits: Wie sonst soll man ein so weltumspannendes Dokument texten? Und ein Drittes macht auch zumindest stutzig: Wenn der Migrationspakt, wie es gebetsmühlenartig zur Verteidigung einer deutschen Unterschrift wiederholt wird, rechtlich nicht bindend ist – wieso dann so ein Dokument?
Fast 180 Staaten weltweit sollen dem Pakt zustimmen können
Von hinten angefangen: Migration ist ein weltweites Phänomen, dem stimmen alle zu. Erstmals soll das mit dem Migrationspakt auch schriftlich niedergelegt und somit offiziell anerkannt werden: Kein Land ist eine Insel, zumindest nicht im übertragenen Sinn.
Aus dieser Erkenntnis, dass Migration nicht einfach wegzudiskutieren ist, folgt die Forderung nach einer „legalen Migration". Einer, die überschaubar und möglichst auch steuerbar ist, bei der ganz sachlich Strichlisten geführt werden, sobald jemand sich von A nach B bewegt. Bei der dieser Jemand Papiere hat, um seinen Weg mitverfolgen zu können. Und bei der dieser Weg nicht über Schleuser in tödlichen Nussschalen-Fahrten übers Meer mündet. Am Ziel angekommen sollen die Migranten gerecht behandelt werden: ohne jedwede Diskriminierung, mit einem Recht auf Grundleistungen, Anerkennung von Berufsausbildungen oder Aufnahme in die Gesellschaft.
Dem gegenüber stehen Kontrollmechanismen: Die Bekämpfung von Schleusern, ein „integriertes, sicheres und koordiniertes Grenzmanagement", um reguläre Grenzübertritte zu ermöglichen und irreguläre zu vermeiden. Und auch eine „sichere und würdevolle Rückkehr und Wiederaufnahme" in Herkunftsländer sollen ermöglicht werden.
Um ihre Rechte wahrnehmen zu können, brauchen Migranten die schon erwähnten Papiere – und in diesen Bereich fällt auch die Angst, dass hier geborene Babys ausweisloser, also staatenloser Migranten geltendes Asylrecht „aushebeln" (siehe Interview). Das Bestreben, Staatenlosigkeit auch von Kindern aller Möglichkeit nach zu vermeiden, steht schon im Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Auch diese hat Deutschland unterzeichnet. Dort, ebenso wie im Migrationspakt-Text, mit dem Zusatz, dass kein Staat zum Geburtsrecht („ius soli") verpflichtet sein soll, wenn es eigenem Staatsrecht nicht entspricht. Das genau ist in Deutschland der Fall: Hier geborene Kinder ausländischer Eltern erwerben die deutsche Staatsbürgerschaft nur, wenn ein Elternteil mindestens acht Jahre hier gelebt hat und unbefristetes Aufenthaltsrecht genießt. Ein alter Schuh also, der zur Steilvorlage für Populisten wurde.
Was wieder zum Hauptproblem führt: Eine Diskussion, schon gar eine öffentliche, haben sich Parteien und Organisationen jenseits rechtspopulistischer Strömungen weitgehend wegnehmen lassen. Das kann man als ignorant sehen. Mitsprache läuft heute anders als 1961, wer das nicht miteinbezieht, bekommt die Rechnung präsentiert. Da hilft dann auch kein Hinweis darauf, dass es sich um einen Vertrag zur Stärkung der legalen, gesteuerten Migration handelt. Und der eine rechtlich nicht bindende Grundlage für eine globale Migration sein soll, ohne die Souveränität der Unterzeichnerstaaten einzuschränken.
Ein Vertrag zur Stärkung der legalen, gesteuerten Migration
In gewisser Weise stellt der Migrationspakt eine weltweite Staatengemeinschaft einmal mehr auf den Prüfstand. So wollen die USA, Ungarn, Österreich, Polen, Israel oder Australien nicht unterzeichnen. Was andersherum heißt, dass Länder wie Syrien, die Arabischen Emirate oder Mexiko weniger Probleme damit haben, ihre Unterschrift unter das Papier zu setzen und sich zu verpflichten, die rechtliche Situation von Migranten bei sich zu verbessern. Der Migrationspakt leidet schon jetzt an unterschiedlichen Auslegungen und daran, dass er als Werkzeug zur Selbstversicherung ausschließlich nationaler Deutungshoheit benutzt wird. Dennoch: Jede globale Vereinbarung muss irgendwo ihren Anfang nehmen. Das ist auch hier das Ziel.
Zu hoffen bleibt, dass der Weckruf an die Politik Wirkung zeigt. Als Nächstes steht nämlich eine weitere UN-Vereinbarung an, die sich nicht vorrangig um Arbeitsmigranten, sondern um Flüchtlinge kümmern wird. Wie der Migrationspakt wurde auch der Flüchtlingspakt schon 2016 auf einem UN-Gipfeltreffen angeregt, lange beraten und jetzt vorgelegt. Wieder mit zahlreichen „Kompromissformulierungen", um alle Staaten miteinbeziehen zu können. Zahlreiche Möglichkeiten also, sich Deutungshoheit nehmen zu lassen – oder offene Diskussionen selbst anzuregen.
Die Texte zum Migrations- und Flüchtlingspakt im Wortlaut finden Sie unter www.un.org/depts/german.