Die politische Karriere von Helmut Schmidt verlief rasant. Nur fünf Jahre, nachdem er 1964 zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt wurde, war er als Minister bereits der zweitwichtigste Mann in der Regierung von Willy Brandt. 1974 löste er ihn als mächtigster Mann im Staat ab.
Man kann die politische Laufbahn von Helmut Schmidt sehr gut an seinem früheren Gartenhäuschen in Langwedel im Landkreis Rendsburg-Eckernförde ablesen. „Immer wenn Helmut Schmidt beruflich aufstieg, wurde etwas dazugebaut", zitierten die „Kieler Nachrichten" 2017 Holger Spießhoefer, nachdem eine andere Familie das Ferienhaus des früheren Bundeskanzlers am Brahmsee erworben hatte. Spießhoefer hatte einst als Maurerlehrling beim Bau des Hauses mitgewirkt. Später diente er 33 Jahre lang als Bürgermeister der kleinen Gemeinde.
1957 hatten Helmut Schmidt und seine Frau „Loki" das Grundstück erworben und eine kleine Gartenlaube bauen lassen. Damals war Schmidt gerade in den Fraktionsvorstand der SPD aufgerückt – vier Jahre, nachdem er 1953 erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Im Sommer 1958 verbrachte die Familie den ersten gemeinsamen Sommer in Langwedel. Zu diesem Zeitpunkt galt Schmidt als aufstrebendes politisches Talent bei den Sozialdemokraten und als einer der schärfsten Kritiker des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU). Als glänzender Redner mit scharfer Zunge verdiente er sich früh den Beinamen „Schmidt Schnauze". Dabei profilierte er sich vor allem als Verkehrs- und Verteidigungsexperte.
Die Karriere schien 1958 bereits vorbei
Wenige Monate später schien die Karriere Schmidts allerdings zu Ende, bevor sie so richtig begonnen hatte. Im Oktober 1958 schmiss ihn die SPD aus dem Fraktionsvorstand, weil er kurz zuvor in Hamburg an einer Wehrübung der Bundeswehr teilgenommen hatte. Mit dem Militarismus wollte man bei den Genossen nichts zu tun haben. Erst mit dem außerordentlichen Parteitag im November 1959 in Bad Godesberg sollte es in dieser Hinsicht zu einem Paradigmenwechsel kommen und sich die SPD zur Bundeswehr und zur Landesverteidigung im Rahmen der Nato bekennen. Erst durch das Godesberger Programm wandelte sich die alte Arbeiterpartei programmatisch zu einer modernen Volkspartei. Helmut Schmidt schien politisch erledigt, und die Gartenlaube wäre womöglich bei ihren bescheidenen 30 Quadratmetern geblieben: Wohn- und Schlafzimmer sowie eine Küche mit zwei Herdplatten. Doch Schmidt kämpfte unverdrossen weiter für seine Ziele und wurde dafür 1961 belohnt: Als Senator in seiner Heimatstadt Hamburg bekam er endlich die Gelegenheit, mitzuregieren. Wenngleich vorerst nur in der Landespolitik.
Zwar verwehrte sich Schmidt bis zu seinem Tod dem Vorwurf, er sei Zeit seines Lebens von einem unbändigen Ehrgeiz getrieben worden. In einem Interview mit Ulrich Wickert in der „Welt" sagte er 2008: „Ehrgeiz ist ein Begriff, den ich auf mich nicht anwenden würde; natürlich lag mir an öffentlicher Anerkennung, aber die Antriebskraft lag woanders. Die Antriebskraft war typisch für die Generation, der ich angehört habe: Wir kamen aus dem Kriege, wir haben viel Elend und Scheiße erlebt im Kriege, und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland. Das war die eigentliche Antriebskraft."
Doch so ganz haben ihm das seine Wegbegleiter wahrscheinlich nie abgekauft. „Dabei sahen manche von ihnen allein in Schmidts hemmungslosem Zigarettengenuss ein Zeichen seines Tatendrangs", schrieb Jacques Schuster 2015 ebenfalls in der „Welt". „Die gierigen Lungenzüge, das Ausstampfen halbgerauchter und das sofortige Anzünden neuer Zigaretten waren für sie ein Beleg der inneren Rastlosigkeit auf dem Weg nach oben."
1964 startete Schmidt einen zweiten Anlauf, dieses Mal sollte sein Aufstieg in der Bundespolitik noch rasanter verlaufen. Bereits vor der Bundestagswahl von 1965 gehörte Schmidt als einer von zehn Ministern zum Schattenkabinett der SPD um Willy Brandt, der die Wahl jedoch gegen Amtsinhaber Ludwig Erhard (CDU) verlor. Schmidt zog somit zunächst nur als einfacher Bundestagsabgeordneter in das neue Parlament ein. Das änderte sich früher als erwartet. Erhards zweite Amtszeit verlief glücklos, im Oktober 1966 zog der Koalitionspartner FDP nach einer Auseinandersetzung über den Bundeshaushalt seine vier Minister aus der Regierung zurück. Erhard trat zurück. Sein Nachfolger wurde Kurt Georg Kiesinger (CDU), der sich Ende des Jahres mit der SPD auf die erste Große Koalition auf Bundesebene einigte. Helmut Schmidt hatte zusammen mit SPD-Chefstratege Herbert Wehner großen Anteil daran gehabt, dass die Sozialdemokraten in die Regierung rückten, doch als ihm anschließend aber nur das Verkehrsressort angeboten wurde, verzichtete er auf den Eintritt ins Kabinett.
Dafür wurde er nach dem Tod von Fritz Erler 1967 Fraktionsvorsitzender. Aus seiner Sicht war das sogar der bessere Posten, denn „ein Fraktionsvorsitzender ist einer, ein Minister aber nur einer von 20." Mit der Ernennung zum Fraktionsvorsitzenden veränderte sich auch Schmidts Rhetorik. Seine Parlamentsreden wurden staatstragend. Michael Schwelien verglich den Wandel in seiner 2003 erschienenen Biografie „Helmut Schmidt. Ein Leben für den Frieden" mit jenem von Grünen-Politiker Joschka Fischer rund 30 Jahre später.
Am 16. Mai 1974 auf dem Gipfel der Macht
Nachdem die SPD die Bundestagswahlen 1969 gewonnen hatte, holte der neue Bundeskanzler Willy Brandt Schmidt als Verteidigungsminister erstmals ins Kabinett der neuen SPD/FDP-Koalition. Nur fünf Jahre nach dem Wiedereintritt in den Bundestag wurde Helmut Schmidt hinter Brandt zum zweitwichtigsten Mann innerhalb der Regierung. In seine Amtszeit als Verteidigungsminister fiel unter anderem die Verkürzung des Grundwehrdienstes von 18 auf 15 Monate und die Gründung der beiden Bundeswehr-Universitäten in Hamburg und München. 1972 übernahm Schmidt nach dem Rücktritt von Karl Schiller zeitweise das Amt des Finanz- und Wirtschaftsministers. Ein wahres „Superministerium" und somit bereits ein erster Vorgeschmack auf die große Verantwortung als späterer Bundeskanzler. Nach der Bundestagswahl 1972 wurde das Ministerium allerdings wieder geteilt: Die FDP stellte fortan den Wirtschaftsminister, Schmidt führte weiterhin das Finanzministerium.
Von seinem Vorgesetzten Willy Brandt hielt Helmut Schmidt übrigens nie besonders viel. Zwar würdigte er dessen Verdienste in der Ostpolitik und bei der Annäherung der beiden deutschen Staaten, doch gerade von der Wirtschaftspolitik habe Brandt nicht viel verstanden, wie Schmidt immer wieder betonte. Es ist ein historisches Paradox, dass die SPD in ihrer Geschichte wahrscheinlich nie wieder so präsent war wie zur Zeit Brandts, Schmidts und Wehners, dass aber gleichzeitig zwei der drei wichtigsten Charaktere sich eigentlich nicht ausstehen konnten.
Nach dem schwachen SPD-Ergebnis in der Hamburger Bürgerschaftswahl im März 1974 mahnte Schmidt Veränderungen innerhalb der Partei an. „Eine Regierungsumbildung allein könnte möglicherweise bloß ein Trick sein. Es muss schon ein bisschen tiefer gehen, als ein paar Personen auszuwechseln", wurde Schmidt im „Spiegel" zitiert. Politikwissenschaftler Arnulf Baring formulierte dort 1982 rückblickend: „Wer so sprach, sah sich offenbar schon halbwegs im Palais Schaumburg (dem Dienstsitz des Bundeskanzlers in Bonn in den Jahren 1949 bis 1976; Anmerkung des Autors) sitzen. Es war die Skizze einer Kursänderung, auch Geschwindigkeitsbegrenzung, die er politisch für unumgänglich hielt, und damit nach Lage der Dinge gleichzeitig die Ankündigung der eigenen Kandidatur, die Erklärung seiner Bereitschaft, die Kanzlerschaft zu übernehmen."
Der Sturz von Willy Brandt im Mai 1974 war dennoch nicht das Werk Helmut Schmidts – vielmehr trat der Kanzler nach der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume vorzeitig zurück. Schmidt wurde sein Nachfolger: Mit 267 Ja-Stimmen wurde er vom deutschen Bundestag am 16. Mai 1974 zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt. Auch als jetzt mächtigster Mann im Staat fuhr Schmidt aber weiterhin gern in seine Laube nach Langwedel. Oft empfing er dort auch Staatsgäste. „Immer, wenn die Staatskarossen durchs Dorf rollten, wusste man: Helmut Schmidt war da", berichtete Holger Spießhoefer den „Kieler Nachrichten".
Bis heute ist das Haus ein beliebtes Ziel für Besucher geblieben. Auch weil sich darin der politische Aufstieg des einstigen Bundeskanzlers auf besonders plastische Weise manifestiert.