Zufrieden ist niemand in Großbritannien: Der von Theresa May ausgehandelte Brexit-Vertrag wird die gewünschte Kontrolle über das eigene Land nicht zurückbringen. Wenn das britische Unterhaus ihn nicht annimmt, stehen womöglich Neuwahlen an. Oder ein zweites Brexit-Votum – dann unter geänderten Vorzeichen.
Noch bis vor Kurzem hatte das Brexit-Lager recht leichtes Spiel: Zweifelte jemand den Sinn des EU-Austritts an, verwiesen die Brexiteers stets auf das Ergebnis der Volksabstimmung vom Juni 2016. Alles perlte an ihnen ab, der äußerst knappe Ausgang ebenso wie die Falschbehauptungen während der Abstimmungskampagne, der Verstoß gegen die Finanzierungsregeln – das Brexit-Lager hatte mehr Geld ausgegeben als erlaubt – und die russische Einmischung. Der Brexit galt als „Wille des Volkes", und wer daran rüttelte, war kein Demokrat. Das ging so weit, dass auch die oppositionelle Labour Party den Brexit lange mittrug.
Nun aber ist die Debatte in Bewegung geraten. Der Ruf nach einer zweiten Abstimmung wird immer lauter. Auf die Frage, ob es einen harten oder einen weichen Brexit geben werde, also einen kompletten Austritt oder einen Verbleib zumindest in der Zollunion, antwortete die britische Premierministerin Theresa May vor zwei Jahren noch mit dem Versprechen eines „rot-weiß-blauen" Brexit ausweichend. Was das sein sollte, vermochte sie freilich nicht zu sagen. Lange kamen die Brexiteers, zu denen May ursprünglich gar nicht gehört hatte, mit solchen Nebelkerzen durch.
In den letzten Monaten ließen sich die gravierenden Nachteile des Brexits immer schlechter leugnen. Der EU-Austritt wird für die Insel wirtschaftliche Schäden bedeuten, das gibt mittlerweile selbst May zu. So gestand sie ein, dass der Brexit das Land ärmer machen werde. Und das selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass der von ihr ausgehandelte Vertrag mit der Europäischen Union das Unterhaus passiert.
Verbleib ohne Mitgestaltung
Immer klarer wird inzwischen auch, worauf Brexit-Gegner seit Jahren hingewiesen haben: Tritt das Vereinigte Königreich aus der Zollunion aus, verletzt es das Karfreitagsabkommen in Nordirland, das dort seit 20 Jahren einen brüchigen Frieden schafft. Laut diesem Abkommen müssen in der Republik Irland und in Nordirland die gleichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen herrschen. Diese aber sind nicht gegeben, wenn eine Zollgrenze die Insel teilt. Die einzig realistische Alternative zur Verletzung des Abkommens war daher, europäische Normen und Regulierungen im Rahmen der Zollunion hinzunehmen – ohne diese mitgestalten zu können.
Brexit-Gegner haben ebenfalls jahrelang darauf hingewiesen, dass ein Austritt aus dem Binnenmarkt desaströse Folgen für die Wirtschaft und somit auch für den Arbeitsmarkt hätte. Dem trägt der nun ausgehandelte Vertrag Rechnung. De facto behält Großbritannien den Zugang zum Binnenmarkt und zur Zollunion, muss dafür jedoch den Souveränitätsverlust hinnehmen, diese nicht mitgestalten zu können.
Lediglich die Möglichkeit anderer Europäer, nach Großbritannien zu ziehen, wird eingeschränkt; das ist jedoch auch schon der einzige britische Sieg. In allen anderen Punkten hat sich die EU durchgesetzt, vom Rahmen der Verhandlungen über die Rechnung für den Austritt bis hin zum Umgang mit Gibraltar. Letzteres war obendrein ein Lehrstück, wie viel auch Spanien mit der EU als Hebel erreichen kann. Auch dies prophezeien Brexit-Gegner und Handelsexperten seit Jahren: Wenn es um Verhandlungen in so einer Größenordnung mit handfesten, wirtschaftlichen Interessen geht, kommt es eben doch auf Größe an. Die Regierungen von Ländern mit insgesamt 446 Millionen Einwohnern und mehr als 5,5 Mal so großer Wirtschaftsleistung verhandeln nicht darüber, zu welchen Bedingungen Großbritannien mit seinen 65 Millionen Einwohnern die EU verlässt. Vielmehr diktierten die EU-27 jene Bedingungen. Dass David Davis, der ehemalige Unterhändler und Brexit-Minister, als arbeitsscheu und unvorbereitet galt, hat ihnen das noch erleichtert.
So dämmert nun immer mehr Briten, dass sie die Wahl haben, ohne Vertrag aus der EU auszutreten – mit verhängnisvollen Folgen für die Wirtschaft; oder sie akzeptieren den jetzigen Vertragsentwurf – weiterhin als Mitglied in Binnenmarkt und Zollunion, aber ohne Möglichkeit, über deren künftige Ausgestaltung mitzubestimmen. Das Hauptziel und Motto der Brexiteers, die „Kontrolle zurückzuerlangen", verkommt damit endgültig zur Farce.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Mays Vertrag nicht viele Freunde hat. Kontrolle abzugeben und dafür lediglich zu erreichen, dass die eigene Wirtschaft nicht ins Bodenlose stürzt, sondern nur ein bisschen fällt: Das stellt niemanden zufrieden. Dennoch werden Brexit-Befürworter wie Johnson, Davis oder Farage weiterhin behaupten, dass die jetzige Misere nur daran liege, dass die Regierung nicht voll hinter dem Brexit stünde. Und dass es nach wie vor möglich sei, die Vorteile des Binnenmarkts und der Zollunion zu genießen, ohne diesen anzugehören.
An dieser Grundkonstellation ist einerseits nichts neu. Schon 2016 taten die Brexiteers so, als könne das Land ohne negative Folgen für den Austritt stimmen und sich auf den Weg in eine rosige Zukunft machen. Alles, was je schlecht lief, sei allein die Schuld der EU, schimpfen die EU-Feinde nach wie vor. Neu ist hingegen, dass die Brexit-Anhänger seit 2016 jede Menge Gelegenheit hatten, Verantwortung zu übernehmen, vor der sie jedoch stets flüchteten. Reihenweise haben sie Mays Kabinett verlassen, erreicht hat keiner von ihnen etwas.
Ruf nach zweitem Votum wird lauter
Der Brexit, der nur Positives bringt, war nie realistisch. Ebenso gut hätte 2016 eine Abstimmung darüber stattfinden können, ob die EU gezwungen werden solle, jedem Briten künftig eine monatliche Rente von 3.000 Pfund zu zahlen. So haben sich in den letzten Wochen auch die Umfrageergebnisse erheblich geändert: Bis zum Sommer 2018 lagen das Pro-EU-Lager und die Austrittswilligen gleichauf, inzwischen gehen die Werte immer deutlicher in Richtung Verbleib. Der Ruf nach einer erneuten Abstimmung konnte auch solange kaum Unterstützung gewinnen, wie es unklar blieb, worüber eigentlich abgestimmt würde. Nun ist deutlich: Es gibt den bestehenden Vertragsentwurf, einen ungeordneten „harten" Ausstieg – oder den Verbleib in der EU.
Parallel dreht sich in der oppositionellen Labour Party die Stimmung. Bislang vertrat Labour mehrheitlich die Linie, den „Willen des Volkes" in Sachen EU-Ausstieg zu respektieren und es eher auf Neuwahlen ankommen zu lassen, sollte die Regierung wegen der Vertragsabstimmung platzen. Nun spricht man auch hier von einem zweiten Votum. Das verwundert nicht, denn auch in jenen Labour-Wahlkreisen, in denen die Mehrheit noch 2016 für den Austritt stimmte, haben sich die Mehrheitsverhältnisse geändert.
Auch in der EU mehren sich die Stimmen, den Briten mehr Zeit zu geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass May ihre Vereinbarung mit der EU am 11. Dezember durchs Unterhaus bekommt, ist gering: Sogar Teile ihrer eigenen Partei sowie Mays Verbündete von der nordirischen DUP haben ihr „nein" angekündigt. So wird die Abstimmung über den ausgehandelten Vertrag vermutlich scheitern und eine Regierungskrise auslösen, die nur eine Wahl oder eine zweite Volksabstimmung beenden kann.
Es bleibt die Hoffnung, dass sich eine Erkenntnis durchsetzt: Dass populistische Politiker wie Johnson, Davis oder der ultrakonservative Jacob Rees-Mogg zwar viel versprechen, jedoch nichts davon einhalten können. Populisten wie Nigel Farage können zertrümmern, nicht aber aufbauen, und Verantwortung übernehmen sie so auch nicht. Sollte sich diese Erkenntnis im Vereinigten Königreich und anderswo tatsächlich festsetzen, so hätten die letzten zweieinhalb Jahre, die das Land 50 Milliarden Pfund gekostet haben, wenigstens ein klein wenig Sinn gehabt. Sicher, die rechten Populisten würden schäumen vor Wut. Aber das ist ohnehin ihr Dauermodus, vollkommen unabhängig von den Umständen – es ist an der Zeit, sie damit endlich ins Leere laufen zu lassen.