Einige Male im Winter veranstaltet die Rhätische Bahn „Dampfschneeschleuderfahrten". Dann wird Graubünden zum Mekka für Bahnfreaks.
Strahlender Sonnenschein in Pontresina. Zwei leuchtend rote Triebwagen der Rhätischen Bahn, vollbesetzt mit Männern jenseits der 50, kämpfen sich den Berg hinauf in Richtung Ospizio Bernina. Auf 2.253 Metern passiert hier die Berninabahn den höchsten auf Schienen erreichbaren Punkt Europas.
Hundert Männer in gemeinsamer Ekstase. Hundert Männer im Paradies für große Jungs. Aus ganz Europa sind sie in den Schweizer Kanton Graubünden gekommen. Viele Deutsche, besonders aus Schwaben, Österreicher, Belgier und Niederländer. Sogar ein Engländer ist mit dabei. Für sie alle ist der heutige Tag das Highlight des Jahres. Denn nur an wenigen Tagen im Jahr bietet die Rhätische Bahn Dampfschneeschleuderfahrten an.
Im Winter schneit es in den Schweizer Bergen oft und viel. Damit die Züge trotzdem fahren können, müssen die Schienen freigeräumt werden. Und das geschieht mit Schneeschleudern. Eine ganz besondere Anziehung auf Bahnfans übt die Xrot 9213 aus. So heißt im Fachjargon die einzige noch funktionierende Dampfschneeschleuder der Welt – Baujahr 1910.
Günther arbeitet beim Finanzamt in Stuttgart. Man kann sich gut vorstellen, wie der Endfünfziger mit dem akkurat gezogenen Mittelscheitel hinter seinem Schreibtisch sitzt und akribisch eine Steuererklärung nach der anderen prüft. Doch angesichts der Dampfschneeschleuder verliert auch er seine Strenge: „I bin der Günther", stellt er sich vor und schwärmt von der Xrot 9213 wie von einer Frau. Von schönen Kurven spricht er und auch das Wort „rassig" kommt über seine Lippen.
Günther war für sein Hobby schon in ganz Europa unterwegs – überall auf der Jagd nach dem perfekten Dampflokfoto. Er kennt jede Lok in Europa und den Verlauf der Bahnstrecken obendrein. So wie fast jeder hier im Zug – außer mir. Günther hat sich neben mich gesetzt. Und bereut es wohl schon bald. Denn mit jemanden, der die Sprache der Bahnfans nicht spricht, lässt sich kein vernünftiges Gespräch führen. Nachdem die Floskeln über das hervorragende Winterwetter – „ideale Bedingungen zum Fotografieren der Dampfschneeschleuder" – ausgetauscht sind, unterhält er sich doch lieber mit dem Herrn, der uns gegenüber sitzt. Der kommt, dem Dialekt nach zu schließen, ebenfalls aus Schwaben und erzählt von seiner Modelleisenbahn im Garten. Beim Anblick der fauchenden Räummaschine gerät auch er ins Schwärmen. „So viel Dampf müsste ich für meine Bahn auch mal haben", sagt er.
Zwischenstopp für die Nahaufnahme
Eine Dampfschneeschleuder einfach nur zu sehen, reicht keinem der Fans aus. Mindestens ebenso wichtig ist das Foto für das Album zu Hause, der Beweis für die Freunde im Eisenbahnerclub. Deswegen hat jeder der Mitreisenden seinen Fotoapparat dabei. Das weiß man natürlich auch bei der Rhätischen Bahn und entsprechend sind die Touristenfahrten auch organisiert.
Die Bahn-Fans fahren in den beiden Triebwagen voraus, die Schneeschleuder hinterher. An den fotografisch besonders interessanten Stellen halten die Wagen an, dann bringt sich jeder mit seiner Kamera in Position, und schließlich kommt dann der Star des Tages wild schnaubend um die Ecke. Die Dampfschneeschleuder setzt zur Arbeit an. Damit sie aber auch genügend zu tun hat, schaufelt man aber erst einmal Schnee in die Spur. Je weiter und höher der dann davonfliegt, desto besser sieht es auf den Fotos aus und desto besser gefällt es den Bahnfans. Dort, wo die Zugstrecke von der Straße aus einsehbar ist, haben sich Fans mit ihren Teleobjektiven platziert. Auch wer keinen der begehrten Plätze an Bord eines Triebwagens ergattert hat, sichert sich so sein Erinnerungsfoto.
In der Alp Grüm, kurz nach dem höchsten Punkt der Strecke, wird das Mittagessen serviert. Doch trotz großem Hunger spielt das Essen nur eine untergeordnete Rolle. Möglichst schnell wird es hineingeschaufelt. Denn wirklich wichtig ist es, den Zwischenstopp für eine Nahaufnahme der Dampfschneeschleuder zu nutzen, ein Foto von der Dampfmaschine zu machen oder vielleicht sogar in den Führerstand hinaufzusteigen.
Als wir nach sechseinhalb Stunden in den Bahnhof von Pontresina zurückkehren, ist Günther hochzufrieden. Ein seliges Kinderlächeln huscht über sein Gesicht. „Des war doch mal was", sagt er begeistert und zeigt mir auf dem Display seiner Spiegelreflexkamera sein bestes Bild: Die Dampfschneeschleuder in voller Aktion, im Sonnenschein und vor dem Hintergrund der Schweizer Berge. Günther ist so glücklich wie wahrscheinlich sonst nur, wenn er in einer Steuererklärung einen Fehler aufgedeckt hat.