Cathleen Schuster schult und betreut bei der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg pflegende Angehörige. Ziel: sie in ihrem herausfordernden Alltag zu unterstützen. Denn irgendwann stoße nahezu jeder an eine Grenze.
Als Karl Hollnberger vom Deutschen Roten Kreuz seinen Finger befeuchtet und den Wasserwarnmelder berührt, zucken seine Zuschauer unweigerlich zusammen. Durchdringend ist das Geräusch, das ertönt: ein Alarmsignal erster Güte. Es ist ein grauer Herbstvormittag, an dem zehn Menschen in das Hinterhofhaus im Stuttgarter Westen gekommen sind, in dem der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg eine barrierefreie Musterwohnung eingerichtet hat. Die Besucher eint, dass sie einen Angehörigen haben, der an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz erkrankt ist. Sie sind hier, weil sie diesen Angehörigen pflegen – und erfahren wollen, welche Hilfsmittel ihnen dabei helfen können, den Patienten in die Lage zu versetzen, so lange wie möglich eigenständig in den eigenen vier Wänden zu bleiben.
Die Wohnberatung des Deutschen Roten Kreuzes ist ein Baustein der Schulung „Hilfe beim Helfen" der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg für pflegende Angehörige. Zum Angebot des landesweit tätigen Vereins zählen auch ein Gesprächskreis und individuelle Beratungen am Telefon – aus gutem Grund. Zwischen 60 und 70 Prozent der Demenz-Erkrankten in Deutschland werden in erster Linie von ihren Angehörigen gepflegt. Entlastung finden sie viel zu selten. Immer mehr Einrichtungen für Tagespflege scheuen sich, die Patienten aufzunehmen, weil ihnen die Personalkapazitäten fehlen. Folge: die Angehörigen fühlen sich alleingelassen und überfordert. Sie stoßen an eine Grenze, weil ihnen meist die passende Entlastung fehlt und sie das Gefühl haben, mit ihren Belastungen ganz allein zu sein.
„Hilfe zu suchen ist kein Zeichen von Schwäche"
„Eine planbare Kurzzeitpflege ist oft ein Ding der Unmöglichkeit", hat Cathleen Schuster festgestellt, die dem Isolationsgefühl dennoch entgegenwirken will. „Nach Hilfe zu suchen ist kein Zeichen von Schwäche oder Ohnmacht", sagt die Frau, die seit April 2016 bei der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg Angehörige betreut. Eigentlich wollte Schuster Landschaftsarchitektin werden, doch ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Altenheim ebnete ihr einen anderen Weg. Sie machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin und studierte anschließend Soziale Arbeit. Inzwischen arbeitet sie seit mehr als 20 Jahren mit an Demenz Erkrankten. „Es ist eine Herzensangelegenheit", sagt sie. Bei der Führung durch die barrierefreie Musterwohnung hält sich Schuster abseits. Karl Hollnberger präsentiert ein Telefon mit Fotos neben den Kurzwahltasten, ein Handy mit Notfallknopf oder einen Bewegungsmelder für die Haustür, der ein Tonband mit Sätzen wie „Habe ich einen Schlüssel dabei?" oder „Liebe Petra, bleib zu Hause, ich bin gleich wieder da" auslöst. Anschließend geht es ins Bad, ins Schlafzimmer, in die Küche. Die einfach zu bedienende Fernbedienung für den Fernseher löst bei den Angehörigen ein Seufzen aus, der Trinkwächter oder die Herdüberwachung gespanntes Lauschen. „Wenn’s praktisch ist, ist es häufig auch teuer", bedauert Hollnberger. Aber: Für viele Hilfsmittel gilt die Leistungspflicht der Krankenkassen. „Findige Hausärzte wissen das."
Ausführliche Informationen zu Rechts- und Krankenkassenleistungsfragen zählen zu den wichtigen, doch etwas trockenen Komponenten der Angehörigenschulung. Der Kurs beinhaltet sieben Module zu je zwei Stunden. Ganz wichtig ist der Beraterin aber das emotionale Element, das im Prinzip auf zwei Füßen steht: Demenz verstehen lernen und sich über die Konsequenzen der Pflege fürs eigene Leben gewiss werden. „Mir war lange gar nicht bewusst, dass ich die Krankheit meines Mannes noch nicht akzeptiert habe", habe ihr eine Angehörige einst gestanden. Andere bedankten sich dafür, dass sie gelernt hätten, gelassener und geduldiger zu werden. „Wenn sich Verhaltensweisen oder sogar die Persönlichkeit des Partners oder des Elternteils verändern, sollte man sich immer klarmachen, dass da häufig nicht mehr der Mensch spricht, sondern die Krankheit", sagt Schuster. Das sei natürlich umso schwieriger, je höher die emotionale Bindung zwischen dem Pflegenden und dem Erkrankten ist. „Wenn man immer einen sehr dominanten Vater hatte und jetzt Dinge über seinen Kopf hinweg entscheiden soll, muss man damit erst umgehen lernen."
Erlernte Muster erleichtern Alltag
Gerade aber weil sich der Geisteszustand der Erkrankten kontinuierlich verschlechtere und das bedeute, sich immer weiter von ihnen zu verabschieden, bräuchten pflegende Angehörige Auszeiten. Sie sollten darauf achten, weiter auch Raum für sich selbst zu haben. „Die Selbstfürsorge ist enorm wichtig. Man braucht Freizeit, um Kraft zu tanken, sollte seine Hobbys auf keinen Fall aufgeben. Sonst hält man es nicht über Jahre hinweg durch, einen Angehörigen zu pflegen, ohne selbst krank zu werden." Je mehr Schultern es gebe, auf die Verantwortung verteilt werde, je mehr Geschwister, Freunde oder Nachbarn einspringen könnten, umso besser. Schließlich werden auch pflegende Angehörige mal krank oder haben einen Unfall. „Wenn es da zum Beispiel eine Person gibt, die immer mal wieder zum Spazierengehen kommt, gewöhnt sich der Erkrankte an sie als weitere Bezugsperson", sagt Schuster. Das geschehe am besten schon in einer frühen Phase der Erkrankung. Denn erlernte Muster erleichtern dem Patienten im späteren Verlauf den Alltag.
Als der graue Herbstvormittag im Stuttgarter Westen zu einem grauen Herbstmittag geworden ist, muss Karl Hollnberger feststellen, dass er den vorgesehenen Zeitrahmen gesprengt hat. „Ich rede immer so viel", entschuldigt er sich schmunzelnd. Die Teilnehmer der Führung nehmen es ihm nicht übel. Denn Hollnberger mag viel reden, er hat aber auch viel zu sagen. „Mir raucht der Kopf", gesteht eine der Angehörigen, eine andere flüstert ihrem Nebenmann leise zu: „Es gibt doch immer wieder ein paar Dinge, die man bisher nicht wusste."