Rund 40 Wissenschaftler um Dr. Jan Alexandersson vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken haben ein neues Medizinprodukt entwickelt. Der Prototyp soll bei der Diagnose von neurokognitiven Erkrankungen helfen.
Rund 50 Millionen Menschen weltweit leiden unter neurodegenerativen Krankheiten. Dabei handelt es sich um Gehirnleistungsstörungen, die vollkommen unterschiedliche Ursachen haben können. Das Älterwerden der Menschen, ungesunde Ernährung, mangelnde Bewegung und Stress sind wesentliche Faktoren für die Zunahme solcher Krankheiten. Die wohl bekannteste unter ihnen ist Alzheimer.
Zwar gibt es heute noch keine Möglichkeiten, Alzheimer vollständig zu heilen, aber Prävention und Früherkennung können für einen positiveren Verlauf des Krankheitsbilds sorgen und damit die Therapiechancen deutlich verbessern. Das hilft nicht nur den betroffenen Patienten, sondern auch dem Umfeld wie Familie, Freunden oder Pflegepersonal.
Leid zu lindern und die Fürsorge des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen ist Antriebsfeder für Dr. Jan Alexandersson. Der gebürtige Schwede und Computerlinguist arbeitet seit 25 Jahren am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. In einem interdisziplinären Team von circa 20 Mitarbeitern haben die Wissenschaftler nach knapp zwei Jahren intensiver Arbeit gemeinsam mit einer etwa gleich großen Gruppe von Neuropsychologen aus Nizza einen Prototypen entwickelt, der die Arbeit von Gesundheitsexperten mit Künstlicher Intelligenz (KI) gestützten Sprachanalysen erleichtern soll. Unterstützt wurde das Projekt von EIT Digital, einer führenden europäischen Organisation zur Stärkung digitaler Innovationen.
Schnellere und präzisere Diagnose
Die neu entwickelte Sprachanalyse per App ermöglicht eine schnellere und präzisere Diagnose und somit eine frühere Behandlung von neurokognitiven Erkrankungen. Mehrere Hundert Probanden haben sich während dieser Zeit zur Verfügung gestellt, um belastbare Testergebnisse in die Entwicklung des digitalen Diagnose-Unterstützungssystems einfließen zu lassen. Das eigens dafür gegründete Start-up-Unternehmen „ki elements" des DFKI wird Mitte Januar den inzwischen medizinisch zugelassenen Prototyp rund zwei Monate lang von ausgewählten Neuropsychologen aus der Nähe von Nizza an der Côte d’Azur in der Praxis testen. Verläuft dieser Praxistest erfolgreich, will „ki elements" das Rollout dieses höchst innovativen Produkts auf dem deutschen Markt planen. Jan Alexandersson könnte sich sogar vorstellen, dass die Künstliche Intelligenz gestützte Sprachanalyse bei Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt für alle Patienten zum Einsatz kommt. „Wir lassen heutzutage beim Arzt von Zähnen über die Sehkraft bis hin zum Blut und Krebsvorsorge alles checken, warum nicht auch das Gehirn? Denn je mehr Menschen mitmachen desto belastbarer sind letzten Endes die Ergebnisse", so Projektleiter Alexandersson. Und davon würden schließlich viele Menschen profitieren. „Wir sind nämlich fest davon überzeugt, dass Künstliche Intelligenz uns die Möglichkeit eröffnet, neurodegenerative Erkrankungen anhand natürlicher Sprache, der wohl einzigartigsten menschlichen Fähigkeit, einzuschätzen."
Worum geht es nun genau bei der sogenannten KI-gestützten Sprachanalyse? Bisher hat die Digitalisierung die Arbeit der Neuropsychologen wenig tangiert. Denn liegt der Verdacht einer neurodegenerativen Krankheit vor, führen die Fachärzte zahlreiche Tests am Patienten durch, deren Ergebnisse meistens von Hand protokolliert und dokumentiert werden.
Der Test dauert etwa eine Stunde
Der Forschungsgruppe ist es gelungen, in Zusammenarbeit mit den Neuropsychologen diese Tests zu digitalisieren. Das erleichtert dem Arzt nicht nur die Arbeit – lästiges Mitschreiben beispielsweise entfällt –, sondern erlaubt tiefgreifende Zusammenhänge und Analysen beim Patienten, zum Beispiel auf semantischer Ebene. Außerdem wird der Krankheitsverlauf von Beginn an lückenlos dokumentiert. In dem circa eine Stunde dauernden Test überprüft der Neuropsychologe sechs kognitive Domains. Dazu gehört als erster Bereich die Sprache. Der Patient muss beispielsweise in einer bestimmten Zeit Bildbeschreibungen machen. Ein weiterer Bereich ist die Überprüfung exekutiver Funktionen. Das seien Vorgänge, die im Arbeitsalltag sehr oft vorkommen, sagt Dr. Alexandersson. Da muss der Patient zum Beispiel in einer Minute so viele Tiere aufsagen, wie ihm einfallen. In diesem Fall wird die steuernde Suche im Gehirn angesprochen. Die meisten Menschen nennen viele Tiere aus einer artverwandten Gruppe, weil sie so möglichst viele Tiernennungen zusammenbekommen. Die Aufzählung wird der Einfachheit halber aufgenommen. Lernen und Gedächtnis des Patienten können ebenfalls überprüft werden. Ganz bekannt dafür ist beispielsweise das Kartenspiel Memory. Das Überprüfen der perzeptuellen motorischen Funktion erlaubt die Früherkennung von Krankheiten wie Parkinson. Dazu zeichnet der Patient mit einem Stift auf dem iPad mit rechter und linker Hand vorgegebene Linien nach. Anhand der Linienführung und der Stärke der Linien können Fachärzte Rückschlüsse auf die Krankheit ziehen. Zum Schluss testen Neuropsychologen die soziale Kognition wie Emotionen sowie die komplexe Aufmerksamkeit wie Konzentrationsvermögen des Patienten. Alle Ergebnisse zusammengenommen ergeben für erfahrene Fachärzte wichtige Hinweise auf den Fortschritt neurodegenerativer Krankheiten.
Natürlich ist sich der Projektleiter bewusst, dass ein rund einstündiger Test bei jedem Patienten in einer normalen Standarduntersuchung finanziell seitens der Krankenkassen kaum realisierbar wäre. Aber für die Gesellschaft würde es sich lohnen, wenn ein oder zwei Aspekte des Tests beim jährlichen Gesundheitscheck hinzugefügt würden, die innerhalb kürzester Zeit Aufschluss darüber geben, ob der Patient überhaupt erkrankt sei. Und diese Tatsache sollte uns Menschen die Fürsorge doch künftig wert sein.
Weitere Informationen unter: www.ki-elements.de