Demokratie braucht Leidenschaft und Überzeugungskraft, sagt Heribert Prantl. Der profilierte Journalist warnt im Umgang mit populistischen Extremisten vor Fatalismus und sieht in der Europawahl im kommenden Jahr auch eine Entscheidung über ein „welthistorisches Experiment".
Herr Prantl, der Umgang mit Populismus ist für uns „Mainstream-Medien" eine besondere Herausforderung. Haben Sie darauf eine Antwort?
Die ganz große und die ganz schwierige Frage gleich am Anfang! Zunächst einmal bin ich mit der Bezeichnung Populismus überhaupt nicht zufrieden, weil sie schlichtweg verharmlosend ist. Die, die wir als Populisten bezeichnen, sind keine Populisten, das sind populistische Nationalisten, das sind populistische Rassisten, das sind populistische Extremisten. Die Frage ist also: Wie gehen wir mit populistischen Rassisten um?
Als Populismus bezeichnen wir ja heute fast alles: Wer was gegen den Euro hatte, wer etwas gegen den Afghanistan-Einsatz hat, wer überhaupt etwas gegen Militäreinsätze im Ausland äußerte, gilt als Populist – sagen jedenfalls die Regierungsparteien. Für mich ist der Ausdruck Populismus wie ein Gummiring: ausgeleiert, verharmlosend und nichtssagend. Darum ist mir der Ausdruck Extremisten lieber. Und damit ist die schnelle und pointierte Antwort auf die Frage, wie ich mit den populistischen Extremisten umgehe, klar: Ich gehe mit ihnen populistisch um. Populistisch – das ist nur die Methode, um für politische Ziele zu werben. Ich will mit populären, mit populistischen Mitteln werben für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für Liberalität. Für mich ist populistisch in diesem Kontext die Leidenschaft und die Überzeugungskraft. Ich muss auch komplexe politische Fragen an einem Tapeziertisch in der Fußgängerzone erklären können. Ich muss in der Politik vereinfachen, aber so, dass es noch richtig ist, damit ich eine breite Diskussionen führen kann. Wenn das bis zum Mai nächsten Jahres, bis zur Europawahl, nicht gelingt und die populistischen Extremisten dann Europa in die Hand nehmen, mehr als sie es jetzt schon haben, dann können wir einpacken. Dann ist ein welthistorisches Experiment und vielleicht das wichtigste Ereignis seit der Französischen Revolution in Europa gescheitert.
Ist es das, was uns abhandengekommen ist: die Leidenschaft?
Mir fehlt sie nicht, glaube ich, und ich hoffe, dass sie Ihnen auch nicht fehlt. Ein berühmter Saarländer hat mal gesagt: „Nur wer begeistert ist, kann andere begeistern." Diese Begeisterung vermisse ich bei den Regierenden. Bei allem, was ich auch Gutes über Angela Merkel sagen kann, aber dass sie begeistert hat, kann man nicht sagen. Wenn jetzt nach ihrer Rückzugsankündigung etwas passiert ist, dann dies – dass man das Gefühl hat, dass eine Decke weggezogen worden ist, dass etwas Bleiernes weg ist und Diskussionen, die man sich schon lange gewünscht hätte, wieder stattfinden.
Ich bin ja kein Fan von Horst Seehofer, aber er hat nicht Unrecht damit, wenn er sich gewünscht hat, dass Diskussionen stattfinden. Die Mittel, mit denen er es versucht hat, angefangen von dem berühmten CSU-Parteitag im November 2015 mit der Schulmädchen-Nummer bis zu allem, was dann an Streitigkeiten folgte, war natürlich unterirdisch.
Es hat bei den Regierungspolitikern, es hat in der Koalition die Leidenschaft dafür gefehlt, dass „wir das schaffen". Wenn ich so einen Satz, den Satz „Wir schaffen das" angesichts einer historischen Herausforderung sage, dann muss ich es mit aller Leidenschaft im Bundestag, im Fernsehen, in außergewöhnlichen Regierungserklärungen, Interviews, in großen Auftritten kundtun. Das hat Merkel nicht gemacht.
Das hat sie nicht gemacht beim Thema Flüchtlinge, das hat sie nicht getan beim Thema Europa. Ich habe einmal zu Beginn der Eurokrise und der Griechenlandkrise in meinem Blatt geschrieben, dass ich nie geglaubt hätte, dass ich mich eines Tages nach Helmut Kohl sehne. Bei Europa war es tatsächlich so. Bei ihm hat man gespürt, dass ihm Europa ein Herzensanliegen ist. Bei Angela Merkel habe zum ersten Mal so etwas wie Leidenschaft bei ihrer Rückzugserklärung gemerkt. Die war für ihre Verhältnisse rhetorisch fast spektakulär. Es war völlig klar: erstens, zweitens, drittens, viertens und man saß da und dachte sich, die Frau kann ja klar reden. Dieses Mehltauige, das über den 13 Kanzlerjahren und 18 CDU-Vorsitzenden-Jahren lag, hat, glaube ich, den populistischen Extremismus beflügelt.
Ein anderes Phänomen sind Verschwörungstheorien. Die gab es zwar schon immer, aber woher kommt es, dass die derart Konjunktur haben?
Ach, ich weiß gar nicht genau, wie Verschwörungstheorien entstehen. Ich habe immer das Internet begrüßt, es hat mich erinnert an die Vormärz-Jahre, so wie ich die aus den Berichten der Zeitzeugen kenne. Die bürgerliche Revolution von 1848 ging los mit einer Medienrevolution. Die Leute haben miteinander Zeitung gelesen, haben diskutiert. Ich habe immer geglaubt, mit dem Internet passiert etwas Ähnliches, das Internet sei eine unglaublich demokratische Einrichtung. Ist es auch.
… aber da haben Sie nicht mit dem Algorithmus gerechnet …
Leider haben sich ganz andere Sachen im Internet nach vorn gedrängt. Dazu gehören diese Verschwörungstheorien, diese Blasen. Das Netz ist die wahrscheinlich größte Kloake der Weltgeschichte. Was da an Hass, an Verleumdung und Verschwörung sein Unwesen treibt, ist ungeheuerlich. Früher hatten die Leute allenfalls am Stammtisch Verstärkung für abstruse Ideen. Heute findet man zu jedem Scheißdreck Follower in Tausenderzahl und jeder, der irgendwie einen abstrusen Unsinn vertritt, fühlt sich beflügelt.
Wie gehen Sie denn als Journalist mit diesen Echokammern um?
Mal ist man deprimiert, mal ist man angestachelt. Und dann schreibe ich, auch wenn ich schon 100 Leitartikel beispielsweise zum Asylrecht geschrieben habe, den 101., den 102, den 103. – ich schreibe, weil ich das nicht so stehen lassen will.
Können journalistische Methoden wie etwa „Faktenfinder" zur Aufklärung und Versachlichung beitragen?
Jetzt wäre ich wahnsinnig froh, wenn ich sagen könnte: Fakten helfen, Fakten überzeugen die Menschen. Es ist leider nicht so. Mit Fakten überzeugen sie vielleicht Menschen, die noch nicht festgelegt sind. Aber die Festgelegten und die, die in diesen Verschwörungstheorien verhaftet sind, denen können sie Fakten aufzählen, bis sie schwindlig im Kopf sind. Sie können schreiben wie ein junger Gott – sie überzeugen die Leute nicht. In der Anfangsphase der AfD hat man darüber diskutiert, dass man sie entlarven soll, oder darüber, ob und wie man mit denen diskutieren soll etwa in den Talkshows. Ich habe immer gesagt: Wer jemals in einer Talkshow saß, weiß, wie viel man in einer Talkshow sagen kann. Dass man die Leute dort entlarven kann, ist schlichtweg Unsinn. Dafür kriegen die Radikalen dort eine Bühne für den größten Unsinn, für die größten Unverschämtheiten und für die größten Schweinereien. Auf diese Weise haben sich bestimmte Dinge eingeschlichen; es verschieben sich Debatten und man geht den Extremisten auf den Leim. Wir müssen nicht jeden Furz, den die AfD gelassen hat, beschnüffeln und analysieren, wie er riecht. Es gibt Dinge, über die man schreiben muss, aber wir haben über zu viele Dinge geschrieben. Wir haben diese Partei viel zu wichtig gemacht.
Und damit tritt ein Gewöhnungseffekt ein?
Schlimmer als die AfD und schlimmer als diese Art der Extremisten ist diese Art des Fatalismus und des Phlegmas. Zu sagen, das ist halt jetzt so, dauert ein paar Jahre und dann schwingt das Pendel auch wieder zurück, das muss man über sich ergehen lassen wie einen Vulkanausbruch. Das halte ich für das Gefährlichste: Diese Art der Apathie und des Nichtstuns wäre hochgefährlich. Wenn ich über Leidenschaft rede, dann geht es auch darum, leidenschaftlich anzutreten gegen den populistischen Extremismus und ihn nicht hinzunehmen. Da bin ich eigentlich ganz froh über das, was in den letzten Monaten passiert ist. In München gab es Demonstrationen in einer Teilnehmerzahl, wie ich es schon ganz, ganz lange nicht mehr erlebt habe, auch in Berlin. Da ist schon etwas im Gange. Da habe ich das Gefühl, dass ich keine Angst haben muss vor der Apathie und der politischen Resignation. Da würde ich mir noch mehr Leidenschaft von der klassischen Politik wünschen.
Ist das das Positive daran, dass die Menschen mehr politisiert werden?
Bei diesen zwei großen Demos der jüngsten Zeit waren offenbar ganz viele Menschen dabei, die zum ersten Mal bei einer Demo waren. Es war eine ganz breite Bewegung von Linken bis hin zur katholischen Jugend und Landjugend. Da steckt eine Politisierungskraft drin, die schon sehr bemerkenswert ist. Bei den Wahlen in Bayern und auch bei den Wahlen in Hessen kam das den Grünen zugute. Die Grünen wurden sehr gefeiert für ihren Erfolg. Ich war eher erstaunt, dass sie unter 20 Prozent blieben. Ich dachte mir, dass es mehr sein könnten. Andererseits dachte sich ja auch die AfD, dass sie mehr Stimmen bekommen würde. Ich glaube, zum ersten Mal hat die AfD in Bayern und Hessen gemerkt, dass ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen. Und das ist vielleicht auch eine Reaktion der Wähler auf die Proteste. Und schauen Sie sich mal an, was sich da im Netz an munteren Sachen und Filmchen gegen die AfD positioniert. Das ist, was ich mir für den Europawahlkampf wünschen würde: dass die Menschen merken, um es flapsig zu sagen, dass es dabei um die Wurst geht.
Wenn Sie jetzt diese Gegenbewegungen beschreiben: Heißt das, der Bundespräsident muss sich etwas weniger Sorgen um die Demokratie machen?
Ich glaube schon, dass diese Demokratie einigermaßen stabil ist. Sie hat schon einiges verdaut in der Geschichte, sie hat die NPD verdaut, sie hat die Republikaner verdaut, wobei die AfD schon viel größer ist, als diese es waren. Wir haben keine Weimarer Verhältnisse, aber man muss Weimar immer als Warnung sehen – und darf deshalb das, was sich in der AfD tummelt und was Herr Höcke herumkrakeelt nicht auf die leichte Schulter nehmen. Man darf nicht einfach denken: Das legt sich schon. Mir ist ein warnender Bundespräsident lieber als jemand, der sagt: Übertreibt es mal nicht.
Besorgt sein muss man ja auch über den Zustand der Volksparteien. Berappeln die sich wieder?
Der Titel „Volksparteien" war immer auch der Versuch der einst großen Parteien, sich selbst zu nobilitieren und die anderen an den Rand zu schieben. Mir kam es manchmal so vor wie Eltern und Kinder. Da waren die Volksparteien, sozusagen Mama und Papa, und da waren die anderen, die Kinder, die waren zuständig für Spiel und Sport und Krimskrams. Für die wichtigen Dinge des Staates waren dann CDU/CSU und die SPD zuständig. Das war ein überhebliches Parteienbild. Gewiss: Ich will nicht haben, dass die SPD bei zehn Prozent rumkrebst, das ist einer Partei mit dieser Geschichte nicht angemessen. Aber dass die kleinen, auf die man bislang ein bisschen heruntergeschaut hat, ein bisschen größer werden, und die großen ein bisschen kleiner werden, damit kann eine Demokratie umgehen. Und wenn man zur Koalitionsbildung drei statt zwei Parteien braucht, springe ich deswegen nicht aus dem Fenster. Die große Schwierigkeit in der Weimarer Republik war, dass man keinen Sinn für Kompromiss hatte. Dass zur Demokratie der Kompromiss gehört, haben wir, glaube ich, gelernt.
Ist diese Erkenntnis schon fest genug in unseren Genen verankert?
Ich habe soeben irgendwo den Satz gelesen: Demokratie braucht revolutionäre Geduld. Das hat mir ganz gut gefallen. Was populistische Extremisten propagieren, das ist ja eine Alexander-der-Große-Politik: Knoten durchhauen, und zack, Problem erledigt – aber das ist mitnichten so. Demokratie besteht im geduldigen Aufnesteln von Knoten, was aber den Vorteil hat, dass man die Schnürbändel nachher noch benutzen kann.