Seit vier Jahren ist der berühmte Pergamonaltar für Besucher nicht mehr zu sehen, denn das Pergamonmuseum wird bis 2024 generalsaniert. Im Ausweichquartier gleich neben der Museumsinsel bekommen jetzt Besucher im Pergamon-Panorama von Yadegar Asisi einen Eindruck davon, wie Menschen in der antiken Stadt gelebt haben könnten.
Drumherum Baubuden, Bagger und Kräne. Wer aber das temporäre Ausstellungsgebäude „Pergamonmuseum" gegenüber dem Bode-Museum betritt, erlebt hier Geschichtsunterricht vom Feinsten. Eine ganz neue Art der Begegnung mit der Antike. Sogleich fühlt man sich inmitten der einstigen Stadt an der türkischen Westküste. Geheimnisvoll wabert Frühnebel über die Landschaft. Langsam erwacht der Tag, Vögel zwitschern. Rhythmisches Pferdegetrappel ist zu hören. Wagenräder rollen über Pflastersteine. Ein Dudelsack ruft zum Jahrmarktstreiben. Händler bauen ihre Stände auf. Gänse schnattern, Schafe blöken, Ziegen meckern. Ein Hahn kräht, während die Sklaven längst Steine schleppen und sie hämmernd bearbeiten.
Abseits von dieser Szene sind kleine Grüppchen von jungen Männern und Frauen in leichten Gewändern auszumachen. Ein Liebespaar hält sich umschlungen. Zwei Frauen begrüßen einander. Menschen erfrischen ihre Füße an sprudelnden Fontänen. Dazu ertönt Harfenspiel und Liebesgeflüster. Damen mit Sonnenschirmen spazieren die Gassen entlang, Kinder lachen, toben um sie herum. Szenen, wie sie im historischen Pergamon stattgefunden haben könnten.
In Vorbereitung der Arbeiten zu seinem Panorama besuchte Yadegar Asisi mehrmals die historischen Stätten rund um die Akropolis von Pergamon, die heute in der Türkei liegen. Ein aufwendiges Fotoshooting in einem Berliner Filmstudio fand im vorigen Jahr statt. Nicht anders als bei einer Filmproduktion war ein großes Team für Kostüme, Requisiten und Maskenbild verantwortlich. Aufnahmeleiter, Beleuchter sowie Panoramafotografen waren beteiligt, um die bis zu 40 kostümierten Komparsen unter der Regie von Yadegar Asisi und auf der Grundlage eines detaillierten Storyboards die verschiedensten Szenen nachstellen zu lassen.
Recherche rund um die historischen Stätten
Der Besucher blickt nun auf Terrassen mit imposanten Bauwerken, Tempeln und einem Theater. Auf eine hügelige Landschaft mit Oliven- und Pinienbäumen. Man hört Zikaden zirpen, fühlt förmlich die Luft in der Hitze flimmern. Menschen strömen zusammen zu einer Feier des Weingottes. Blut tropft am Pergamonaltar auf den Rahmen des Opfersteins, auf dem die Innereien der geschlachteten Tiere brennen. Rauchschwaden steigen vom Altarfeuer hinauf zum Himmel.
Man glaubte damals an eine Vielzahl von Göttern und verehrte sie überall: in Tempeln und Naturheiligtümern, den Bergen sowie Pflanzen und Tieren. Um sich ihr Wohlwollen und ihren Schutz zu sichern, wurden Tiere geopfert – Hühner, Schafe, Ochsen.
Der Betrachter wird förmlich hineingezogen in die Prozession zu den Festspielen, die die Menschen im Frühling zu Ehren des Gottes Dionysos feierten. Der Gott des Weins und der Vergnügungen symbolisierte auch Rausch und Ekstase. Was als religiöser Kult thrakischen Ursprungs mit Umzügen begann, entwickelte sich in Athen zu einem Fest, den sogenannten städtischen Dionysien. Aus den kultischen Ritualen von Gesang, Tanz und Opferdarbietungen entwickelten sich die griechische Tragödie und Komödie. In der Spätantike verfiel die untere Ebene der Stadt Pergamon, nur der Burgberg blieb bewohnt. Die Friese des Pergamonaltars verschwanden in der byzantinischen Festungsmauer. Im Jahr 715 verwüsteten die Araber die Stadt. Die Antike war endgültig Geschichte.
Über 1.000 Jahre später wurden die Kunstwerke dann wiederentdeckt – durch deutsche Ausgrabungen in Pergamon, die 1878 begannen. Sie zählen zu den erfolgreichsten der deutschen klassischen Altertumsforschung und werden vor Ort bis heute fortgeführt. Das Asisi-Panorama versteht sich als eine Verdichtung archäologischer Erkenntnisse und Lebenszeugnisse. Bereits 2011 hatte der Künstler ein Pergamon-Panorama entworfen, das ein Jahr lang im Ehrenhof des Pergamonmuseums ausgestellt war. Jetzt hat Asisi erneut mit der Antikensammlung zusammengearbeitet, das vorherige Panorama überarbeitet. Dazu rekonstruierte der Architekt und Fotokünstler den Zustand der Stadt unter der Regierung von Kaiser Hadrian.
Eine über 200 Jahre alte Tradition für sich neu entdeckt
„Ich war fasziniert, wie dieser Burgberg städtebaulich angelegt war", erzählt Asisi. „Und gefordert, mich mit der Kulturgeschichte auseinanderzusetzen, damit, wie sich Menschen damals zusammengefunden und organisiert haben. Indem ich die Lebenswelt zeichnete, habe ich auch etwas über die Gefühle und Empfindungen der Menschen verstanden und so auch über mich selbst und die Welt von heute. Letztlich kommen wir doch alle aus einer Ecke. Die griechische Kultur kommt mir vor wie unsere Neuzeit, höchst aktuell. Trotz Zersplitterung sind wir letztlich eine Gemeinschaft. Alles hängt miteinander zusammen."
Besonders beeindruckte den Künstler die Begegnung und Zusammenarbeit mit Mitarbeitern anderer wissenschaftlicher Fachbereiche, den Archäologen, Restauratoren, Animateuren oder Klang- und Tontechnikern. „Menschen mit Leidenschaften faszinieren mich immer wieder. Die Realisierung des Projekts war für mich wie ein Rausch, das absolut Größte."
Der Berliner Architekt hat eine mehr als 200 Jahre alte Tradition wiederentdeckt. Rundum-Bilder waren die ersten visuellen Massenmedien in Europa. Schon vor Entwicklung der Fotografie konnten Menschen so einen Eindruck von weit entfernten Städten, exotischen Landschaften bekommen. Der Ire Robert Barker meldete 1787 ein Patent an, nannte es zunächst „Natur auf einen Blick", später dann Panorama. Eine Ansicht von Edinburgh war seine erste Arbeit, später ein Blick auf London vom Dach der „Albion Mills".
Auch Yadegar Asisis Kunstwerke schaffen seit 2003 Erlebniswelten, die Geschichte vollkommen neu zugänglich und erfahrbar machen. Was in einem denkmalgeschützten, ehemaligen Gasometer in Leipzig begann, hat sich zu einer Künstlerwerkstatt mit Panoramahäusern in verschiedenen Städten entwickelt. Als Architekt gewann er Preise, arbeitete für Daniel Libeskind an Visualisierungen für Ground Zero, lehrte an Hochschulen. Doch Architektur und Lehre gab er auf, um sich ganz seinen Panoramen zu widmen.
Antike wird nacherlebbar
Geboren wurde Yadegar Asisi in Wien. Seinen Vater, Kommunist und Offizier, erschoss man 1954 in Teheran mit 20 anderen Armeekameraden als „Verräter". Die schwangere Mutter verließ mit dem Sohn das Land und landete in Halle. In Dresden studierte Yadegar an der TU Architektur, übersiedelte nach Westberlin und studierte später an der Hochschule der Künste. Zwischendurch reiste er in den Iran, wollte wissen, woher er kommt. Kurz vor Ausbruch des ersten Golfkriegs kehrte er nach Deutschland zurück. Er entdeckte das Panorama als Medium, als Kunstraum für sich und vereinte das, was ein Architekt sieht, und das, was ein Künstler fühlt.
Das Gefühl für den Raum sei für ihn das Entscheidende, sagt Asisi. In Dresden schuf er ein viel besuchtes Panorama der barocken Stadt und ihrer Zerstörung 1945. In Berlin zeichnete er das Leben in der zweigeteilten Stadt nach, in Leipzig die Völkerschlacht. Er ließ Besucher in seinen Panoramen eine Zeitreise ins alte Rom machen, entführte sie in den tropischen Regenwald des Amazonas. Und im vergangenen Jahr zeigte er in Wittenberg sein riesiges Panorama der Reformationszeit.
In Berlin gehen jetzt etwa 80 der wichtigsten Werke der Antikensammlung aus Pergamon eine Verbindung mit dem Panorama der antiken Stadt ein. In Vorbereitung wurden aufwendige Restaurierungen der Originale vorgenommen. Beispielsweise die der großen Frauenstatuen und der Skulpturen vom Dach des Großen Altars. So können unter anderem der sogenannte „Schöne Kopf", das kolossale Haupt des Herakles, die Porträts der Könige, die Tänzerin aus dem Palast und die Prometheus-Gruppe bewundert werden.
Darüber hinaus werden einzelne Kunstwerke wirkungsvoll in Szene gesetzt – darunter der Telephos-Fries des Altars. Eine Lichtinstallation simuliert den sich im Tagesverlauf ändernden Einfall der Sonnenstrahlen, setzt so Akzente auf unterschiedliche Details. Ein Gesamtkunstwerk entsteht– aus den schon zu ihrer Entstehungszeit berühmten Skulpturen, den digitalen Animationen des Pergamonaltars und der Bildwirkung des Asisi Panoramas. Antike wird hier auf rund 2.000 Quadratmetern eindrucksvoll nacherlebbar.