Die Ägyptologin Professor Elke Blumenthal gibt im Interview Beispiele für Ähnlichkeiten in der ägyptischen und griechischen Mythologie und der Geschichte von Jesus.
Frau Blumenthal, in der altägyptischen Mythologie gibt es offenbar Parallelen zur Geschichte von Jesus. Um was handelt es sich da?
Da gibt es zum Beispiel die Darstellung der Maria mit Jesus als Baby auf dem Schoss. Dieses Motiv ist ein Bildtypus, der in dieser Form in Ägypten entstanden ist, und zwar für die Göttin Isis, die Muttergöttin schlechthin für die Ägypter. Isis musste der Legende nach ihren Sohn Horus vor der Verfolgung durch seinen Onkel Seth schützen. Seth hatte Osiris, den König von Ägypten und Vater des Horus, getötet, und trachtete auch Horus als legitimem Nachfolger von Osiris nach dem Leben. Isis hält Horus in den Darstellungen schützend auf dem Schoss. Dieses Bildmotiv ist mit großer Sicherheit als Vorbild für die Gestaltung der Madonna mit dem Jesuskind benutzt worden.
Die Verfolgung von Horus durch Seth erinnert an den Bericht des Evangelisten Matthäus, wonach der regierende König Herodes alle männlichen Babys in Bethlehem ermorden ließ, um Jesus, angekündigt als „neugeborener König der Juden", als potenziellen Thronfolger loszuwerden.
Wie kommt es, dass die Evangelisten auf so ein altägyptisches Motiv zurückgegriffen haben?
Die kannten den altägyptischen Mythos sicher nicht. Aber dieser Mythos wurde durch die ganze ägyptische Geschichte hindurch weitergetragen. Vor allem in Tempelreliefs wurde er dargestellt, weit über die Zeit Alexanders des Großen hinaus, der Ägypten 332 v. Chr. erobert hatte. In Alexandria, der neugegründeten Hauptstadt, lebte eine große jüdische Gemeinde, die sich ihrer Umwelt geöffnet hatte und viele Vorstellungen ihrer Umgebung aufnahm. So zum Beispiel die, dass ein ägyptisches Königskind der Sohn einer Gottheit ist. Die griechisch-hellenistisch gebildeten Juden konnten also mit Motiven der ursprünglich ägyptischen Königsmythen ihren Glauben ausdrücken, dass Jesus als Kind ihres Gottes geboren war. Die vier biblischen Evangelien sind in der Weltsprache Griechisch geschrieben, und besonders Lukas, der die Weihnachtsgeschichte am ausführlichsten überliefert, wandte sich an eine griechische Leserschaft.
Auch in der griechischen Mythologie soll es Parallelen geben?
Ja, da gibt es hier und da Parallelen zur Lebensgeschichte von Jesus. Zum Beispiel wurden ihm Fähigkeiten zugeschrieben, mit denen sonst vor allem legendäre griechische Helden ausgestattet waren, zum Beispiel das Vollbringen von Wunderheilungen. Solche Heroen, zu denen beispielsweise Herakles gehörte, wurden in Griechenland als „göttliche Männer" religiös verehrt.
Aus der antiken Sagenwelt um solche wundertätigen Männer ist eine Geschichte in ägyptischer Sprache überliefert, die ebenfalls an Jesus erinnert. Sie handelt von dem Zauberer Si-Osire, der bereits im Alter von zwölf Jahren die Priester der Hauptstadt durch sein Zauberwissen zum Staunen bringt. Bezeichnenderweise erzählt der hellenistisch gebildete Lukas eine verwandte Episode von dem zwölfjährigen Jesus, dessen Gelehrsamkeit die der Schriftgelehrten im Tempel übertrifft.