Hier mitbestimmen und wählen zu dürfen, Chancen zu haben, reisen zu dürfen, wohin man will: Was Deutsche oft nicht mehr als hohes Gut wahrnehmen, ist für andere ein lang ersehnter Wunsch. Wer sich hier einbürgern lässt, hat hohe Hürden zu überwinden und muss meist seine ursprüngliche Nationalität aufgeben. Doch die Neubürger strahlen: Sie sind angekommen. Ganz offiziell.
Der Festsaal im Abgeordnetenhaus ist gut gefüllt. Auf den schwarzen Polsterstühlen sitzen Menschen in festlicher Kleidung: dunkle Anzüge bei den Männern, Kostüme bei den Frauen. Eine Sängerin interpretiert John Lennons Friedenshymne: „Imagine there’s no countries …" – Jedes Jahr Ende November geht es bei der zentralen Einbürgerungsfeier des Landes Berlin genau um die besungenen „countries", um die Länder, ihre Grenzen; um den Wunsch, als Bürger zu einem Land wirklich dazuzugehören. Der 23. November, daran erinnert Ralf Wieland, Präsident des Abgeordnetenhauses, ist der Tag, an dem 1995 die neue Verfassung von Berlin nach der Wiedervereinigung in Kraft trat. Und er erklärt an einem berühmten Beispiel, wie Emotionen damit verknüpft sein können, sich für eine neue Staatsbürgerschaft zu entscheiden: Marlene Dietrich, die Berlinerin, hatte während der Nazi-Diktatur 1939 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Und doch hat sie ihre Heimatstadt, in der sie begraben werden wollte, nie vergessen: „Berlin, Berlin, Du bist ein heißes Pflaster, / Wer Dich nicht kennt, verbrüht sich leicht den Fuß. / Wo die Moral wohnt, wohnt auch gleich das Laster", zitiert Wieland ihren Berlin-Song. Rau und ungemütlich, das kann Berlin auch heute noch sein – und vielfältig: Immerhin jeder dritte Berliner hat heute einen Migrationshintergrund. 160 ins Abgeordnetenhaus eingeladene Neubürger gehören nun ganz offiziell dazu.
Eine Entscheidung, die Emotionen weckt
Sie sind „Abgesandte" aus den Bezirken, stehen stellvertretend für jährlich etwa 6.000 neu eingebürgerte Berliner, die ihre Urkunden das ganze Jahr über in den bezirklichen Rathäusern feierlich überreicht bekommen. Erstaunen mag die Zusammensetzung der Neubürger: So kam 2016 mehr als die Hälfte von ihnen aus europäischen Staaten, etwa 1.500 stammten aus asiatischen und 602 aus afrikanischen Ländern.
Ahmad Mansour, Autor und Islam-Experte, kam aus dem Nahen Osten: Vor 14 Jahren habe er sich nicht erträumen lassen, im Abgeordnetenhaus von Berlin vor Neubürgern eine Rede auf Deutsch zu halten, sagt er. Mansour steht sichtlich bewegt am Mikro. Er traf 2004 mit 28 Jahren als Sohn arabischer Israelis in Deutschland ein, um hier sein Studium fortzusetzen. Das erste, was er erlebte, war, dass ihn ein syrischer Taxifahrer in ein Hostel in Neukölln fuhr. Migranten halfen ihm, eine Wohnung zu finden, sagten ihm, wo er einen Studentenausweis beantragen konnte und nannten ihm die besten Falafel-Restaurants. Die Deutschen hingegen empfand er eher als „kalt". Aber er wollte diese Gesellschaft kennenlernen, er zog in ein Studentenwohnheim in Grunewald. Und dann, auf der Fanmeile 2006, auf der Straße des 17. Juni, lernte er ein anderes Deutschland kennen.
Meinungsfreiheit ist „heiliger" als Religion
Irgendwann waren Herkunft, Religion und Sprache nicht mehr so wichtig, beschreibt Mansour seinen Weg; er wurde nach und nach ein Teil des Landes, ohne seine Heimat zu vergessen. Das empfand er als große Chance: Jeder könne seine Religion und seine Tradition in Deutschland weiter pflegen, solange er nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Das bedeutet, sagt Mansour an die Neubürger gewandt: „Sie können Ihre Religion frei ausüben, aber Sie müssen es aushalten, wenn Sie kritisiert werden. Meinungsfreiheit ist in diesem Land ‚heiliger‘ als Religion." Väter dürfen ihren Töchtern nicht vorschreiben, wen sie heiraten müssen. Männer haben nicht das Recht, ihre Frauen zu bevormunden oder gar zu schlagen. Jeder, der hier lebt, muss sich an die historische Verantwortung Deutschlands halten: „Judenhass hat in diesem Land nichts zu suchen." Die Existenz Israels werde hier nicht infrage gestellt. Es gehe nicht nur darum, die Werte des Landes zu verstehen, sondern auch darum, zu begreifen, dass es eine persönliche Bereicherung ist, wenn man danach lebt. Im Publikum sieht man bei dieser Feier so manches nachdenkliche Gesicht – auch und gerade bei denen, die nicht ausländisch aussehen und wohl immer hier gelebt haben. Mansour fasst das, was für ihn einen großen Teil vom Wert in Deutschland zu leben ausmacht, in einen Satz: „Es gibt keine Trennlinien zwischen den Religionen, zwischen der Herkunft, der Sprache. Die einzige Trennlinie ist die zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten."