Das neue „Cell" in der Uhlandstraße hat mit Chef Evgeny Vikentev Fahrt aufgenommen. Die Kursrichtung mit zwei Neun-Gänge-Menüs ist klar – es werden zweifellos Punkte und Sterne avisiert.
Das neue „Cell" hat den unmöglichen „Escher-Würfel" in sein Logo aufgenommen. Glücklicherweise handelt es sich bei den Kreationen im ersten Restaurant des russischen Spitzenkochs Evgeny Vikentev außerhalb seiner Heimat nicht um eine optische Täuschung, sondern um ganz real essbare Gerichte. Es wäre zu schade, Illusionen auf dem Teller vorzufinden! Gewiss ist aber auch, dass nicht alles das ist, was es zu sein scheint. Das Team um Vikentev hat seine Freude daran, Optik und Geschmack elegant miteinander zu verflechten und die Sinne der Gäste gelegentlich anzutäuschen.
Wie könnte es sonst sein, dass die ess-erprobte Begleiterin bei der Sellerie-Mini-Roulade mit Mimolette-Espuma und schwarzem Trüffel hartnäckig bestreitet, dass es sich um das Wurzelgemüse handeln könnte? Weder sieht die Rolle so aus wie Sellerie, noch hat sie dessen durchdringenden Geschmack. Küchenchef Simon Dienemann holt zur Bekehrung der Ungläubigen das Gerät, das das Unmögliche ermöglicht, aus der Küche hervor und zur Erklärung aus. Mit einer „japanischen Mandoline", so der Küchen-Sprech, werden lange, dünne „Lasagne"-Platten in einem fort von der Knolle geschnitten – Prinzip Apfelschale, nur in breit. „Die rollen wir ein, garen sie bei 82 Grad im Wasserbad mit Thymian, Salz und Butter", erklärt Dienemann. Der Saft tritt aus, die Süße komprimiert hervor. Die Rolle wird anschließend in Scheiben geschnitten und wie ein Steak gebraten. Eh voilà. Das Schäumchen mit Mimolette-Käse sei im Grunde eine klassische Béchamel, erklärt er. Sie begibt sich in die gute Gesellschaft von geröstetem Vollkornmehl und gepickelten Sellerie-Würfelchen. Obenauf wird das Thema mit „Mikro-Sellerie"-Blättchen und einem Crunch von Sellerie-„Backerbsen" auserzählt. Gefühlte drölfzig Spielarten des Gemüses vereinen sich auf zehn Quadratzentimetern und lösen Geschmacksexplosiönchen aus.
Explosionen des Geschmacks
Nein, so etwas will ich auf gar keinen Fall zu Hause nachbauen! Dafür gibt’s glücklicherweise die professionellen Küchen-Nerds, die sich solche Raffinessen mit Hingabe ausdenken und herstellen. Auf der Wein-Seite etwa Sommelier Pascal Kunert. Er schenkt zu diesem Gang einen 2017er Ungstein Scheurebe vom Weingut Pfeffingen aus. Die Kreuzung von Riesling- und Silvaner-Reben aus dem Ungsteiner Herrenberg bringt eine erfrischende Saftigkeit mit, die der Cremigkeit des Selleriegerichts gut tut. Noch verblüffender als die Weinwahl ist aber die alkoholfreie, ulraviolette Alternative. Blaubeersaft wurde mit Rote-Bete-Essig ein bisschen spitzer und spritziger gemacht – siehe da, es ist die Nachdichtung einer „Scheurebe". Ich trinke rechts, ich trinke links, vergleiche, bin höchst angetan. Einige weitere nichtalkoholische Getränkebegleitungen sollen noch folgen. Beim Wein wird zu jedem zweiten Gang gewechselt. Das schont den Kopf der Gäste im Nachgang und passt zu den gleitenden Übergängen im Menü, in dem jeweils ein Element von einem Gang in den nächsten mitläuft.
Evgeny Vikentev, 30 Jahre alt und in Russland seit einigen Jahren für seine Kochkunst gefeiert, betreibt in seiner Heimatstadt St. Petersburg mit dem „Wine Rack" sowie dem „Hamlet + Jacks" zwei Restaurants. Seinen neuen Lebensort Berlin, in dem er das „Cell" Ende Oktober eröffnete, bezeichnet er als „the best choice", die „beste Wahl": „Man kann hier Spitzenprodukte aus der Region und aus der ganzen Welt bekommen." Zudem holte er sich Koch- und Wein-Profis aus Berlin mit Rang und Namen an seine Seite: Küchenchef Simon Dienemann arbeitete als ebensolcher im „Vau" und zuletzt im „Tulus Lotrek". Sommelier Pascal Kunert ist der Experte für die großen Gewächse aus Europa, biologische Weine und Faible für die nichtalkoholischen Getränke. Chefpatissier Jonas Merold war zuvor im „Coda" für ausgefallene Desserts zuständig. Man munkelt, die Truppe um Vikentev habe Größeres vor, einen Michelin-Stern ins Auge gefasst. Ein ambitioniertes Ziel, das sie in dieser Besetzung und mit ihrer Originalität, Präzision und Finesse in beiden Menüs zweifellos erreichen können.
Die kulinarische Reise verläuft allabendlich in den „Time Steps" und der „Roots Religion" auf zwei unterschiedlichen Pfaden, die einander gelegentlich berühren. Es gibt ein vegetarisches Menü und eines auch mit Fisch und Fleisch, aber keine À-la-carte-Gerichte. Beide werden für jeweils 110 Euro angeboten. „Ich bevorzuge vorgegebene Menüs", sagt Evgeny Vikentev. „Man kann seinen Gästen mehr Ideen präsentieren. Die Menüs sind zwei jeweils eigenständige Geschichten." Man könne nicht austauschen oder beliebig hin- und herschieben. Die neun Gänge der „Roots Religion" erscheinen uns in ihrer Gesamtheit noch aufregender und spannender als die „Time Steps". Wahrscheinlich, weil so ausgefeilte vegetarische Menüs selbst in Berlin immer noch selten sind.
Alles bis ins Detail hausgemacht
Weitere Beispiele gefällig? Die Nordsee wurde mit Gorgonzola-Espuma, Algen-Eis, einer Wasserkefir-Minz-Granité, Yuzu-Kaviar und Austernkresse „nachgebaut" – das Meer am Gaumen lässt kein Tier vermissen. Auch der „polarisierendste Gang", wie Jonathan Staneker vom Service verrät, das „Quasi-Sorbet" aus einem ungesüßten Schwarzwurzel-Eis mit Granatapfelsaft, Hanföl, Baiser vom frischen Meerrettich, Grünkohldestillat, Buchweizenhonig und Zitrone tut, was seine Bestimmung ist: den Mund auf eine klare, zupackende Art zu erfrischen.
Ich bin begeistert von dieser „femininen" Darreichungsform, wie sie Dienemann charakterisiert. „Durch das Destillieren im Rotationsverdampfer bleibt der rohe Grünkohlgeschmack ohne die Schwere erhalten." Schöne Grüße aus dem Chemieunterricht und der Molekularküche! Unsere Geschmacksreset-Taste wurde erfolgreich gedrückt, und wir biegen langsam in die Zielgerade mit den Desserts ein. Herausragend das optisch eher unscheinbare Steinpilz-Tiramisu. Ja, doch. Steinpilz-Tiramisu. Wer’s nicht glauben mag, kann’s am neckischen Steinpilz-Keks, der sich an den Dessert-Quader anlehnt, erkennen. Es reicht aber auch, den Löffel in die Creme aus Mascarpone mit Stückchen von in Sahne eingelegten Steinpilzen, Schnaps aus aufgekochten Aprikosen, Aprikosengelee und mit Macadamiamehl gebackenen Löffelbiskuits zu versenken. Versteht sich, dass alles bis in die Details hausgemacht ist – vom aus Sahne selbst gewonnenen Mascarpone bis zum frisch gerösteten Kaffee, der mit Lakritz und Kardamom aromatisiert wurde. Anstelle von schnödem Kakaostaub stellte Jonas Merold einen Puder aus Kakao, Lakritz und Steinpilzpulver her. Ich fordere angesichts dieser Verbindung von sanfter Erdigkeit mit sommerlicher Aprikose: Mehr Steinpilze in die Süßspeisen! „Wir wollen immer ein Dessert gemüsig anhauchen, mindestens auf der vegetarischen Seite", sagt Merold. Dieses Tiramisu wäre gemeinsam mit der Sellerie-Mimolette-Geschichte allein schon die Wahl des Veggie-Menüs wert.
Es tun sich mit dem „Cell" also weitere spannende Dinner-Dimensionen in der Uhlandstraße auf, bereichern die wiedererwachte Restaurant-Szenerie in der City West, in der das „Schwein" mit Christopher Kümper und das „Savu" mit Sauli Kemppainen vorgelegt haben. Allein an einer Stelle macht das „Cell" seinem Namen kritikwürdig Ehre: Wer größer als 1,70 Meter ist, sollte nicht in den „Kojen" linker Hand Platz nehmen, sondern Restaurantmanager Peter Izarik um einen Tisch mit Stühlen rechter Hand bitten. Die „Kojen" gemahnen in ihren Abmaßen eher an die Entsagung in klösterlichen Zellen als an bewusstseinserweiternde Avantgarde im Geiste von Kubismus, Bauhaus und Escher. Es wäre schlichtweg zu schade, die lustvolle Muße beim zwangsläufig mehrstündigen Genuss von neun Gängen durch nervöses Herumgeschubber oder das Sortieren der Extremitäten zu stören.