Unter dem Österreicher Werner Schuster haben die deutschen Skispringer in den vergangenen Jahren fast alles gewonnen, was es auf den Schanzen dieser Welt zu gewinnen gibt – nur die Vierschanzentournee noch nicht wieder.
Gemütliche Weihnachten dürften für die deutschen Skispringer auch in diesem Jahr wieder einmal nur ein frommer Wunsch bleiben. Für Andreas Wellinger und Co. läuft gerade an den besinnlichen Tagen der Countdown zur Vierschanzentournee allmählich ab, was von den „Adlern" Fokussierung statt Entspannung bedeutet.
Für das stark besetzte Team von Bundestrainer Werner Schuster geht es bei dem legendären Wettbewerb auch um die Erfüllung eines schier unerfüllbar scheinenden Traumes. 17 Jahre schon liegt der bislang letzte Gesamtsieg eines Deutschen bei den Spektakeln in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen durch Sven Hannawald zurück. Seitdem haben sich bereits mehrere Nachfolge-Generationen vergeblich an einer Wiederholung dieses legendären Coups abgearbeitet. Schusters derzeitige Mannschaft hat zwar in den letzten Jahren so ziemlich alles gewonnen, was es auf den Schanzen der Welt zu gewinnen gibt. Mannschafts-Gold bei den Olympischen Spielen 2014, der WM-Titel für Severin Freund ein Jahr später, Olympia-Gold für Andreas Wellinger im vergangenen Winter und dazu noch mehrere Medaillen in kaum weniger wichtigen Wettkämpfen. Was einzig noch fehlt, ist ein Triumph bei der Vierschanzentournee. „Ich hoffe", sagt Schuster, „dass es dieser Generation noch gelingt, die Tournee zu gewinnen. Wir werden alles reinhauen, was geht."
Freund kam der Erfüllung des „ewigen Traums" vor drei Jahren als Gesamt-Zweiter schon ganz nahe, aber eben nur ganz nahe. Zuvor hatte einzig noch Michael Neumayer bei der Tournee 2007/08 als Dritter der Gesamtwertung auf das Podest der Gesamtbesten fliegen können. Wehmütig wünschen sich Fans die Zeiten von Hannawald und seines kongenialen Kollegen Martin Schmitt um die Jahrtausendwende oder kurz nach der Wiedervereinigung von Jens Weißflog und Dieter Thoma zurück.
Im Winter 2018/19 hat Schuster gleich mehrere Eisen im Feuer. Zuvorderst natürlich Wellinger und der Skiflug-WM-Dritte Richard Freitag, aber auch Freund, der WM-Dritte Markus Eisenbichler, „Sommer-König" Karl Geiger und auch Stephan Leyhe müssen die Konkurrenten aus Polen, Österreich und Japan auf der Rechnung haben. „Wir wollen um das Podest kämpfen. Die Mannschaft ist breiter aufgestellt denn je", sagt Schuster zu den eigenen Erwartungen. Nach Lage der Dinge geht etwas überraschend Richard Freitag trotz eines eher mäßigen Saisonstarts als „Vorflieger" des deutschen Teams in die Tournee.
Richard Freitag als „Vorflieger"
Der Sachse belegte im vergangenen Winter Rang zwei im Gesamtweltcup und absolvierte eine gute Vorbereitung. „Wenn er an seine Leistungsgrenze kommt, müssen sich alle warm anziehen", sagt Schuster. Zunächst wohl nicht die erste Geige im DSV-Team spielt „Goldjunge" Wellinger aufgrund seiner beinahe schon traditionell langen Anlaufzeit. Vor seinem schon siebten Weltcup-Winter bereitet dem 23-Jährigen die Rolle als Gejagter nach seinen Erfahrungen nach dem Team-Gold von 2014 jedoch keine Probleme. „Ich bin immer noch der gleiche Andi Wellinger wie vorher", sagte er. Sicherlich sei alles „insgesamt mehr geworden, das Interesse an meiner Person ist größer, was ich aber auch cool finde. Ich versuche, entspannt zu bleiben und mich auf die wichtigen Sachen zu konzentrieren." Gleichwohl gibt Wellinger zu, dass ihm in der Saisonvorbereitung „die Leichtigkeit gefehlt" habe.
Dies blieb auch Bundestrainer Werner Schuster nicht verborgen. Wellinger habe zwar „brav trainiert", sagte der Österreicher, „ist aber nie so richtig aufgefallen. Man merkt, dass Olympia etwas mit einem macht. Es wird jetzt der Trumpf sein, diese Unbeschwertheit, die ihn immer ausgezeichnet hat, wiederherzustellen."
Schusters zurückhaltende Einschätzung kommt nicht von ungefähr. Einzel-Olympiasieger hatten bislang selten einen großen Folge-Winter. Wellingers Vorgänger Kamil Stoch wurde 2015 nur Neunter im Gesamtweltcup. Der Schweizer Simon Ammann kam nach seinem ersten Doppel-Coup 2002 lediglich auf Weltcup-Rang 28. Bislang der letzte Einzel-Olympiasieger, der im anschließenden Wettbewerb auch Einzel-Weltmeister wurde, war Weißflog – vor 34 Jahren. Der Oberwiesenthaler holte 1985 Gold bei der WM in Seefeld und Innsbruck – ebendort, wo im Februar wieder die WM stattfindet. Ein gutes Omen also für Wellinger? „Wenn die Bedingungen passen und nicht wieder Föhnsturm ist, haben wir da sehr gute Erfahrungen gemacht", sagt der Ruhpoldinger: „Für mich wird das fast eine Heim-WM – es ist näher zu mir nach Hause als Oberstdorf."
Die WM ist für Freund auf jeden Fall mehr das Ziel als die Tournee. Nach zwei Kreuzbandrissen stieg der Bayer mit Verspätung in den Weltcup ein und musste feststellen, dass zwei Jahre ohne Wettkampf Spuren hinterlassen haben. „Ich werde ein paar Wettkämpfe brauchen, um Topleistungen zu bringen", sagt der 30-Jährige und macht damit aus seinen bescheidenen Ambitionen für die Tournee keinen Hehl.
„Es gibt immer wieder neue Ziele"
Gleichwohl bereitet Schuster seine drei Topspringer und ihre Mitstreiter zunächst auf den ersten ganz großen Höhepunkt der Saison vor. Möglicherweise jedoch zum letzten Mal: Der Vertrag des seit 2008 beim DSV arbeitenden Österreichers läuft zum Saisonende aus, und eine Verlängerung noch vor dem Winter blieb anders als in der Vergangenheit aus. „Ich habe das immer spontan entschieden. Viele Dinge in meinem Leben haben sich ergeben. Das Projekt Deutschland, das kann ich schon jetzt sagen, egal wie und wann es endet, ist ein Erfolg", sagte Schuster jüngst in einem TV-Interview über seinen Karriereplan. Droht also der Abschied? Schuster wiegelt ab. „Ich habe immer noch nicht das Gefühl, dass es zu Ende ist", sagte der 49-Jährige.
Für den DSV wäre Schuster kaum zu ersetzen. Wer sollte ihm auch folgen? Ex-Weltmeister Martin Schmitt, der das Trainerdiplom zwar in der Tasche, aber noch keine Erfahrung hat? Oder der ehemalige Skiflug-Weltmeister Roar Ljökelsöy aus Norwegen, der zum DSV-Stab gehört? Ronny Hornschuh vielleicht, derzeit Schweizer Nationalcoach und neben Wolfgang Hartmann (Südkorea) einer von nur zwei deutschen Trainern im Weltcup-Zirkus? Auch wenn sein Vertrag ausläuft, lässt der Erfolgscoach vor seiner elften Saison bei den deutschen „Adlern" an seiner Motivation trotz der zurückliegenden Triumphe keine Zweifel aufkommen. „Es gibt wieder neue Ziele, etwa Severin zurückzuführen, dem ich viel zu verdanken habe", sagt Schuster: „Das ist eine reizvolle Aufgabe – und davon gibt es mehrere." Eine davon ist in jedem Fall die Suche nach Mitteln für einen Erfolg gegen Stoch. Der polnische „Dominator" der vergangenen Saison, der bei der Tournee alle vier Springen gewann, muss wieder als der Favorit für die Tournee angesehen werden. Allerdings ließ die Form des 31-Jährigen im vergangenen Sommer nach gutem Beginn ein wenig nach. Zwei starke Jahre in Folge sind im Skispringen ohnehin selten: Keiner der letzten zehn Gesamtweltcup-Gewinner konnte seinen Erfolg auf Anhieb wiederholen. Bei den ersten fünf Weltcup-Springen des Winters allerdings flog Stoch immerhin schon zweimal wieder auf das Podest. Ob Stoch, Freitag, Wellinger oder vielleicht auch der zu Saisonbeginn schon dreimal erfolgreiche Japaner Ryoyu Kobayashi: Die Fernsehzuschauer können die waghalsigen Flüge der „Herren der Lüfte" womöglich noch intensiver verfolgen. Aufgrund neuer Sensoren an den Skiern werden künftig noch mehr Daten angeboten. Neben der Geschwindigkeit beim Absprung wird auch der Speed nach 20 Metern Flug sowie bei der Landung gemessen, gleiches gilt für die Flughöhe. Ob die Sender das Angebot nutzen, ist noch offen. Bei der Tournee soll das System aber im internationalen TV-Signal zu sehen sein.