Kaum ein anderer Ort vermittelt so sehr die Essenz gutbürgerlicher Gemütlichkeit wie der Platz vor dem Kiepenkerl in Münster. Am 7. April wurde er zum Ziel einer Amokfahrt, bei der fünf Menschen sterben.
Es ist ein bewegendes Bild. Mitarbeiter der Gaststätte „Großer Kiepenkerl" legen Blumen nieder und stellen eine Kerze auf. Einige weinen und nehmen sich in den Arm. Neben ihnen ragt der bronzene Kiepenkerl auf – ein Wahrzeichen Münsters. Seit dem 7. April steht die Figur des fahrenden Händlers mit Tragekorb, Pfeife und Stock nicht mehr nur für westfälische Folklore, sondern auch für eine tödliche Amokfahrt. Unmittelbar vor dem Standbild hat ein Mann einen Campingbus in eine Menschenmenge gesteuert. Zwei Menschen werden direkt getötet, mehr als 20 verletzt. Ein weiterer Mensch stirbt knapp drei Wochen nach der unfassbaren Tat, ein 56-Jähriger erliegt fast vier Monate später seinen Verletzungen. Der Mann hatte seit der Tat im künstlichen Koma gelegen. Der Täter selbst hatte sich nach seiner Amokfahrt erschossen. Er war als psychisch labil bekannt und in Behandlung.
Wenn man einen Ort auswählen müsste, der die Essenz gutbürgerlicher deutscher Gemütlichkeit vermittelt, dann könnte das der Platz am Kiepenkerl sein. Wie an einer Perlenkette reihen sich hier die Giebelhäuser auf. Etwas weiter geht die Straße in den Prinzipalmarkt über, „Münsters gute Stube". Er kenne den Tatort sehr gut, sagt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bei seinem Besuch vor Ort: „Ich habe als erstes gedacht: ein schrecklicher Anschlag an einem Ort, an dem ich selbst schon gesessen habe. Und in dem Moment erinnert man sich genau daran und denkt, es hätte jeden treffen können." Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagt: „Dieses feige und brutale Verbrechen hat uns alle sehr betroffen gemacht."
Beispiellose Hilfsbereitschaft
Rückblende: Der Platz vor dem Kiepenkerl-Standbild am Samstagnachmittag des 7. April. Wer draußen noch einen Platz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist der erste richtig warme Frühlingstag, alle wollen in der Sonne sitzen. Die Uhr zeigt 15.27 Uhr – Kaffee-und-Kuchen-Zeit. Auf die Menschen auf dem Platz muss es gewirkt haben wie ein Meteoriteneinschlag.
Handy-Fotos vom Tatort: Der silberfarbene Campingbus steht zwischen Stühlen und Tischen, Menschen helfen sich vom Boden auf. Der Horror in der guten Stube. „Erste Bilder und Nachrichten aus Münster brechen mir das Herz", twittert Jan Josef Liefers, der Professor Boerne aus dem Münster-„Tatort", damals. Die Stadt sei „einer der friedlichsten und freundlichsten Orte", die er kenne.
Unmittelbar nach der Tat denken viele an einen islamistischen Terroranschlag. Die Bilder aus Nizza, Berlin und London haben sich eingebrannt. Dort und an anderen Orten waren islamistische Attentäter mit Fahrzeugen in Menschenmengen gerast. Doch noch am gleichen Tag wird deutlich, dass es sich bei dem Täter nicht um einen Terroristen handelt. Es ist ein 48 Jahre alter gebürtiger Sauerländer, der in Münster gewohnt hat. Er hatte psychische Probleme, auch eine Art schriftlich verfasste Lebensbeichte liegt vor. Schuldkomplexe, Zusammenbrüche – auch das Gesundheitsamt hatte schon Kontakt zu dem Mann.
Es hat etwas Verstörendes, dass jemand „nur" ein schweres Verbrechen begehen muss, und schon ist ihm binnen Minuten weltweite Aufmerksamkeit sicher. Eben darum, so sagen Psychologen, gehe es manchen Menschen, die einen „erweiterten Suizid" begehen. Sie wollen andere mit in den Tod reißen, um ihr Leben nicht dort zu beenden, wo sie es geführt haben: am Rand der Gesellschaft.
Münster ist an jenem Samstag im Frühjahr jedenfalls schlagartig Top News. Donald Trump bete für die Opfer, teilt das Weiße Haus mit. Erschütterung, Trauer und Fassungslosigkeit sind die vorherrschenden Gefühle nach der Tat. Münster, so erzählt ein Student, sei im Grunde ein Dorf. Niemals habe er geglaubt, dass hier so etwas geschehen könne. Aus Münster kommen an diesem Wochenende aber auch Bilder der Mitmenschlichkeit. Vor der Uniklinik steht eine lange Schlange wartender Menschen – sie alle folgen einem Aufruf zum Blutspenden. „Beispiellos", sagt eine Kliniksprecherin. Und bei einem Abendgottesdienst im überfüllten Paulusdom zu Münster gedenken Hunderte mit brennenden Kerzen und gemeinsamem Gebet der Opfer. Rettungssanitäter, Notfallärzte und Feuerwehrleute sind ebenso dabei wie Politiker. Bischof Felix Genn zeigt sich beeindruckt von der großen Solidarität in der Stadt. Und er findet Worte für Amokfahrer: „Und so beten wir für die Toten", sagt er. „Auch für den, der das verursacht hat. Wie mag es den Angehörigen dieses Mannes gehen?"
Zwei Opfer heiraten im Krankenhaus
Ministerpräsident Laschet kontrastiert das Verhalten dieser gedenkenden Menschen am Sonntag mit jenen, die kurz nach der Tat schon wieder Flüchtlinge und Muslime am Werk sahen: „Ich würde mir wünschen, dass diese Besonnenheit, die die Menschen in Münster ausgestrahlt haben, auch die Solidarität, beispielsweise beim Blutspenden, wenn diese besondere Münsteraner Erfahrung einer Friedensstadt auch alle die erreicht hätte, die gestern ganz schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben." Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch hatte kurz nach der Tat das Merkel-Zitat „Wir schaffen das" in Großbuchstaben mit einem wütenden Emoji getwittert. Einen Tag nach der Tat schrieb sie: „Ein Nachahmer islamischen Terrors schlägt zu. Und die Verharmlosungs- und Islam-ist-Vielfaltsapologeten jubilieren." Immerhin ruderte sie einige Tage später nach heftiger Kritik zurück: „Ich habe mit meinem Tweet zu Münster einen Fehler gemacht, und das tut mir leid. Ich habe einen falschen Verdacht zur Unzeit geäußert, bevor die Fakten bestätigt waren", schrieb von Storch auf ihrer Facebook-Seite.
Immerhin gibt es auch positive Meldungen. Zwei Verletzte der Amokfahrt heirateten eineinhalb Wochen nach der Tat – im Krankenhaus. Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) vermählte das Paar als Standesbeamter im engsten Kreis der Familie.