Trotz Frankreichs Triumph bei der WM in Russland oder vielleicht auch trotz des Titelgewinns von Eintracht Frankfurt im DFB-Pokal gegen Rekordmeister Bayern München: Das Fußball-Märchen des Jahres 2018 schrieb der „Zwerg" Gibraltar durch die ersten beiden Pflichtspielsiege seiner Länderspiel-Geschichte in der Nations League.
Die Fußball-Welt hat sich im vergangenen Jahr beinahe buchstäblich vom Affen gelaust gefühlt: Gibraltar, das winzige, nur 6,5 Quadratkilometer messende Überseegebiet der britischen Krone an der südlichen Spitze der iberischen Halbinsel, feierte im Herbst über Tage und Wochen eine rauschende Fußball-Party, die wohl selbst Fan-Meilen hierzulande alle Ehre gemacht hätte.
Der Grund für den wahrhaftigen Rausch der auch nur 32.000 Einwohner des Zwergstaates mag für deutsche Verhältnisse eher banal, wenn nicht sogar albern erschienen sein: Ein 1:0 in Armenien und ein 2:1 gegen Liechtenstein. Na und, möchte man fast meinen. Doch die beiden auf dem Papier wahrlich nicht beeindruckenden Ergebnisse in der neuen Nations League bedeuteten für die Menschen unter dem weltberühmten Affenfelsen nicht nur einfach zwei Länderspiel-Erfolge, nein, Gibraltar bejubelte die ersten Pflichtspielsiege in der Länderspielgeschichte ihrer Nationalmannschaft überhaupt. Mehr noch: Danach hatte Gibraltar, in der Tat ein absoluter Nobody in der Welt des Fußballs, für einige Wochen doch sogar eine realistische Aussicht auf eine ernsthafte Chance für die Qualifikation zur Europameisterschafts-Endrunde 2020.
Nun, mit den Play-offs für die vier Gruppensieger der vierten und untersten Division in der Nations League ist es für Gibraltar – trotz tatsächlich doppelt so vieler Pflichtspielerfolge in der Jahresbilanz wie beim im Sommer entthronten Weltmeister und „Fußball-Riesen" Deutschland – letzten Endes bekanntermaßen doch nichts geworden. Allerdings haben die Südeuropäer durch ihre historischen Erfolge und ihre sympathische Art zu feiern weit über Europa hinaus in einem Maße an Popularität gewonnen, die sich beizeiten noch als Grundstein für einen wahrhaftigen Kultstatus erweisen kann.
Rauschende Fußball-Party
Jedenfalls flogen Gibraltars Spielern in aller Welt die Herzen der Fans nur so zu. Nicht einmal Frankreichs WM-Triumph oder in deutschen Breitengraden der Pokalcoup von Außenseiter Eintracht Frankfurt gegen den schier übermächtigen Rekordmeister Bayern München vermochten bei Fußball-Liebhabern ähnlich große Freude zu wecken wie die unverhofften Erfolgserlebnisse für diese beinahe lupenreine Amateur-Auswahl.
Das Fußball-Publikum spürte den aufrichtigen Sportsgeist in der mit bestenfalls C-Klasse-Profis und Futsal-Spielern verstärkten Mannschaft aus Ministeriumsangestellten, Feuerwehrmännern, Polizisten, Rechtsanwälten und Studenten, fühlte den leidenschaftlichen Ehrgeiz der Spieler und ihre tiefe Liebe zum Spiel. Anders ausgedrückt: Die „Exoten", die erst seit ihrer Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Europäische Fußball-Union (Uefa) vor fünf Jahren offizielle Länderspiele bestreiten dürfen und für eine Antrittsprämie von weniger als 100 Euro pro Mann spielen, kamen nicht nur für Puristen der reinen Fußball-Kultur mit ihrem wahr gewordenen „Märchen" in der Welt des durchgestylten und beinahe schon gnadenlos kommerzialisierten Fußball-Business zur rechten Zeit wie gerufen.
Von den entsprechenden Reaktionen und Auswirkungen auf den Alltag berichtet Torhüter Kyle Goldwin noch immer mit leuchtenden Augen. Der Keeper vom Erstligisten Gibraltar United gehörte nach dem Erfolg über Liechtenstein zu den gefeierten Helden der kleinen Nation. Nach der Jubelparty bis tief in die Nacht aber wollte der Regierungsangestellte am nächsten Morgen zwar wie gewohnt in sein Büro gehen, „doch obwohl ich rechtzeitig losgegangen bin, kam ich zu spät, weil die Leute mich immer wieder angesprochen und umarmt haben. Noch Tage später stand mein Telefon nicht still."
Doch mutierten die Mannen von Gibraltars uruguayischem Nationaltrainer Julio Ribas, sozusagen die Elite aus dem Kreis der sage und schreibe nicht einmal 200 (!) registrierten Mitglieder des nationalen Fußball-Verbandes, durch ihre wundersame Reise in ihnen zuvor unbekannte Höhen eines Fußballer-Lebens ausgerechnet eben auch für jene nimmersatten Geschäftemacher beim Nations-League-Erfinder Uefa zum Paradebeispiel für die von Kritikern oft infrage gestellte Sinnhaftigkeit des zusätzlichen Wettbewerbs. Tatsächlich auch wäre die Euphorie in und um Gibraltar ohne das ausgeklügelte Spielsystem des Nationen-Turniers mit seinen im Vergleich zur herkömmlichen EM-Qualifikation leistungsmäßig weitgehend ebenbürtigen Divisionen gar nicht vorstellbar gewesen. „Wir spielen häufiger gegen Mannschaften auf unserem Level. Dadurch kommen wir zu Erfolgserlebnissen", fasste Abwehrspieler Jack Sergeant vom englischen Neuntligisten West Didsbury & Chorlton seine Nations-League-Eindrücke treffend zusammen.
„Mein Telefon stand nicht still"
Kein Vergleich zu den Anfängen der offiziellen Länderspiel-Geschichte seines Landes. „Es war ein Schock für uns, gegen Mannschaften wie Deutschland oder Belgien zu spielen", erinnert sich Sergeant immer noch geradezu mit Grausen an die zahlreichen Klatschen für seine Elf. In der Tat zahlte Gibraltar viel Lehrgeld: Sämtliche 22 Pflichtspiele des Teams vor dem erlösenden Triumph in Armenien gingen in der Regel mehr als weniger deutlich verloren. Doch Gibraltars Spieler steckten nicht auf – und lernten mit jedem Spiel und jeder Niederlage immer mehr. Sergeant: „Wir haben uns an das Niveau gewöhnt."
Gibraltars glorreicher Herbst – der Sieg gegen Liechtenstein war ja außerdem auch der erste Heimsieg, das erste Länderspiel mit zwei eigenen Treffern und dazu der erste Erfolg nach einem Rückstand – ist denn auch wirklich Ausdruck eines Reifeprozesses auf Ebenen auch über das sportliche Leistungsvermögen hinaus. Schritt für Schritt nämlich hält mittlerweile auch in Gibraltar die Professionalisierung von Strukturen und Abläufen Einzug.
Sichtbarstes Zeichen dafür ist neben den sportlichen Ausrufezeichen der Nationalelf das heimische Victoria-Stadion. Weil die 5.000-Zuschauer-Arena zwischen Affenfelsen und Flughafen in den Anfängen von Gibraltars Länderspielen noch nicht den niedrigsten Standards für internationale Begegnungen genügte, musste Gibraltar seine ersten Heimspiele noch im portugiesischen Faro austragen. Inzwischen ist das Stadion aufgehübscht und kann von seiner Nationalmannschaft auch offiziell genutzt werden.
Den entsprechenden Heimvorteil dürften die meisten Spieler in Ribas Mannschaft wortwörtlich empfinden, sind sie doch praktisch alle auch mit ihren Vereinen in der Arena zu Hause: Denn das Victoria-Stadion ist Gibraltars einziges echtes Stadion, sodass alle Clubs in dieser Arena immer Heimrecht haben.
Rund um die Nationalmannschaft hat Ribas auch noch mehr Seriosität eingeführt. Anders als wohl die allermeisten seiner Kollegen kann der Südamerikaner seine Auswahl wöchentlich um sich scharen und dabei Spielzüge einstudieren und weiter verbessern. Armenien und Liechtenstein jedenfalls wissen seit dem vergangenen Oktober ein Lied von Gibraltars Steigerung zu singen.
Ribas soll nach dem Wunsch des Verbandes eine neue Ära begründen und auf seinem Posten auch wieder für Kontinuität stehen. Denn mit den gewachsenen Aufgaben auf internationaler Bühne wuchsen bei den Verbandsoberen auch die Ansprüche, die jedoch zunächst kaum zu erfüllen waren. Die Folge waren Entlassungen beinahe im Rhythmus der ganz Großen: 2015 musste noch während der – natürlich – völlig erfolglosen Ausscheidung für die EM-Endrunde 2016 in Frankreich das einheimische Idol Allan Bula nach fünfjähriger Aufbauarbeit seinen Hut nehmen, und auch unter dem Engländer Jeff Wood blieben die Fortschritte hinter den Erwartungen seiner Vorgesetzten zurück.
Ribas soll eine neue Ära begründen
Sein Nachfolger Ribas indes scheint sich als Glücksgriff zu entpuppen. Der Südamerikaner kann auf reichhaltige Erfahrungen aus seiner Profi-Zeit bei großen Vereinen wie Nacional Montevideo, FC Liverpool und River Plate Buenos Aires bauen. Als späterer Trainer, vorübergehend ebenfalls in Liverpool (2002 bis 2003) und bis zum vergangenen Sommer auch über rund drei Jahre bei Gibraltars Rekordmeister Lincoln Red Imps FC, wurde dem heute 61-Jährigen die Bedeutung professioneller Strukturen als Grundlage für Erfolg noch bewusster. Entsprechend drängt Ribas auf weitere Verbesserungen in Gibraltars Fußball-Alltag.
In der Gibraltar Premier Division, der höchsten Spielklasse, profitieren Clubs und Spieler von dem frischen Wind. Sergeant jedenfalls hat bei seinen regelmäßigen (Trainings-)Besuchen in der Heimat ebenfalls positive Veränderungen registriert: „Die Liga ist professioneller geworden."
Dennoch blickt Sergeant künftigen Aufgaben seines Teams, das unmittelbar nach seinem „Doppelschlag" immerhin schon einmal bis auf Platz 190 der Weltrangliste geklettert war, realistisch entgegen und geht nicht von einer nahtlosen Fortsetzung des „goldenen Herbstes" in der anstehenden EM-Qualifikation gegen die Schweiz, Dänemark, Irland und Georgien aus: „Wir wissen, dass Rückschläge dazugehören, wenn wir uns weiterentwickeln wollen."