Sie waren kriminell, sind im Jugendknast gelandet. Dort entdeckten sie in einer Schreibwerkstatt den Umgang mit Sprache. Das Ergebnis: ein Band mit dem Titel „Haftnotizen". Für manche ein Erfolgserlebnis, das vielleicht auch im Leben nach dem Jugendknast weiterhelfen könnte.
Die Aura jener gescheiterten Existenzen und verkannten Visionäre, wie sie hier regelmäßig auf abgenutzten Kneipenstühlen vorzufinden sind, konzentriert sich in der Raumluft …" So beginnt Leons Erzählung, und die Zuhörer merken erstaunt auf, als er mit leiser Stimme weiter liest. Das hat der junge Mann, der eben in blauen Arbeitshosen und Schlabbershirt an ihnen vorbeigelaufen ist, wirklich selbst geschrieben?
„Kneipengedanken" – so hat Leon seine Reflexionen genannt. Sie gehören zu einer Sammlung von Texten und Gedanken, die der Anstaltsseelsorger Thomas Marin unter dem Titel „Haftnotizen" als Buch herausgegeben hat. Unter seiner Leitung haben sich die Teilnehmer an verschiedenen Textgattungen und Themen versucht, mal fiktive Geschichten, mal persönliche Erinnerungen formuliert. Mitmachen konnte jeder. Zweieinhalb Jahre trafen sie sich alle zwei Wochen, stellten in der Gruppe ihre Arbeiten vor, beschäftigten sich selbst mit Exoten wie dem japanischen Haiku. „Was bleibt von allem Leben, wenn alles vergeht? Der schöne Moment", ist da von Tristan zu lesen.
Selbstwertgefühl durchs Schreiben
Das Schreibprojekt ist Teil des Erziehungsprogramms der Berliner Jugendstrafanstalt (JSA) für die gut 130 männlichen Gefangenen unter 21 Jahren. Ein Programm, das den Inhaftierten Chancen eröffnen soll, in Zukunft ein straf- und drogenfreies Leben zu führen. Jeder einzelne Tag des Aufenthaltes soll für die Gefangenen erzieherisch sinnvoll sein, so das Leitbild der JSA. Sie sei dafür gut ausgestattet, erklärt Anstaltsleiter Bill Borchert.
Auch wenn keiner zum Schreiben gezwungen wird: Die Teilnahme an Freizeitaktivitäten ist für die Insassen verpflichtend. Im Paragraf 62 des Berliner Jugendstrafvollzugsgesetzes heißt es dazu: „Die Ausgestaltung der Freizeit orientiert sich am Vollzugsziel. Dazu sind geeignete Angebote, auch an Wochenenden und Feiertagen, insbesondere zur kulturellen Betätigung, zur Bildung, zur kreativen Entfaltung und zum Erwerb von Medienkompetenz vorzuhalten." In der Berliner Koalitionsvereinbarung hat sich der Senat ausdrücklich verpflichtet, den Strafvollzug resozialisierungsfreundlich, sicher und modern auszugestalten.
Aufs Leben nach dem Gefängnis sollen neben Beratung, Beschäftigung und Qualifizierung ganz unterschiedliche Freizeit- und Kultur-Angebote vorbereiten. So gibt es in der JSA mit „aufBruch" seit zehn Jahren ein Theaterprojekt mit Künstlern – gerade sahen auch Besucher „von außen" die aktuelle Inszenierung „Hamlet". In Workshops wie dem Hip-Hop-Projekt „GitteSpitta" setzen sich die jungen Männer künstlerisch und musikalisch mit ihren Gefühlen und ihrer Situation auseinander. Bill Borchert ist immer wieder überrascht, welche Kreativität da manchmal freigesetzt wird. Wichtig sei aber auch, dass damit das Selbstwertgefühl gefördert würde, sagt er. Schließlich sollten die jungen Männer Alternativen zu ihrem bisherigen Leben erkennen können.
Das Projekt von Thomas Marin hat da schon einiges bewirkt: „Hier habe ich was draus machen können, das war der größte Erfolg für mich, den ich hier erlebt habe", sagt Salar – für ihn war das Schreiben völliges Neuland. Ganz neue Seiten entdeckte auch Shamil an sich. Von ihm stammen die Buch-Illustrationen zu den „Haftnotizen". Das habe er sich im Knast selbst beigebracht, erzählt er stolz. Er wolle jetzt auch das Schreiben ausprobieren. Leon ist da schon einen Schritt weiter. Demnächst wird er aus der Haft entlassen. Und hat sich fest vorgenommen, auch „draußen" weiter zu schreiben