Seit November 2018 ist ein hochpreisiges Medikament namens „Aimovig" auf dem deutschen Markt erhältlich, das speziell für die Prophylaxe der neurologischen Erkrankung entwickelt wurde. Drei weitere ähnlich wirkende Präparate stehen unmittelbar vor der Zulassung.
Ein Interessenten-Ansturm, wie er normalerweise nur bei mega-angesagten Tech-Gadgets wie neuen Smartphones üblich ist, war in den vergangenen Monaten in den USA, der Schweiz oder in Österreich zu beobachten. Und zwar nicht etwa für ein trendiges iPhone oder Tablet, sondern für ein neues Migräne-Medikament mit dem Handelsnamen „Aimovig". „Alle Patienten wollten dieses Medikament haben", so die Neurologin Nicoleta Ionita vom Zürcher Kopfwehzentrum Hirslanden im Gespräch mit der Schweizer Boulevard-Zeitung „Blick". „Einige standen am ersten Tag vor der Tür, um das Medikament zu bekommen." Wer bereit war, aus eigener Tasche rund 600 Franken für eine Monats-Spritzendosis hinzulegen, konnte ab Mitte Juli 2018 das Präparat im Land der Eidgenossen mit nach Hause nehmen.
Auch in den USA hatte sich das Mittel, das vom Berner Pharma-Giganten Novartis gemeinsam mit dem kalifornischen Biotechunternehmen Amgen entwickelt wurde, vom Start weg im Mai 2018 als medizinischer Blockbuster präsentiert. Seit November 2018 ist das Medikament, dem die dafür zuständige Europäische Arzneimittelagentur EMA im Juli die Zulassung für Europa erteilt hatte, nun auch auf dem deutschen Markt erhältlich. Und soll laut EMA-Empfehlung vornehmlich Patienten zugänglich gemacht werden, die monatlich von mindestens vier Migränetagen betroffen sind. Novartis/Amgen haben zwar das Zulassungsrennen mit „Aimovig" und dem enthaltenen Antikörper-Wirkstoff Erenumab gewonnen, doch drei weitere Präparate mit ähnlichem Antikörper-Wirkprinzip, nämlich „Ajovy" (mit Antikörper namens Fremanzumab) des iraelischen Pharmakonzerns Teva, „Emgality" des US-Konzerns Eli Lilly (mit Antikörper namens Galcenezumab) und das Medikament mit dem Antikörper namens Eptinezumab (Handelsname noch nicht bekannt) des US-Unternehmens Alder Biopharmaceuticals, dürften bald für gehörige Konkurrenz sorgen. Das könnte hoffentlich die hohen Preise für die entsprechenden Medikamente etwas unter Druck setzen. Unter 500 Euro monatlich dürfte „Aimovig", das in zwei Applikationsarten offeriert wird, als Fertigspritze und als Fertigpen zur häuslichen Injektion nach entsprechender Einweisung, kaum zu haben sein. Auch wenn Novartis offiziell noch keinen Preis publiziert hat. Ob die hiesigen Krankenkassen die Erstattung für das Medikament übernehmen werden, ist noch völlig ungewiss, dürfte wahrscheinlich vom Einzelfall und dem Schweregrad der Erkrankung abhängen.
Das Besondere an Aimovig und den drei anderen Medikamenten besteht darin, dass sie die ersten Arzneimittel sind, die speziell zur Vorbeugung der episodischen (bis zu 14 Tage im Monat) und chronischen Migräne (15 Tage und mehr) entwickelt wurden. Mit ihrer Hilfe kann auch erstmals direkt in den Mechanismus der Erkrankung eingegriffen werden, statt nur Symptome zu bekämpfen. Bislang bestand das Prophylaxe-Therapiespektrum aus nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen und migräne-unspezifischen Präparaten, die eigentlich für den Einsatz gegen andere Erkrankungen wie Blutdruck, Epilepsie oder Depressionen vorgesehen waren, aber bei Einnahme auch positive Effekte bei Migräne-Patienten bewirkt hatten. Allerdings haben Betablocker wie Metroprolol oder Propanonol, Antieleptika wie Topiramat oder Lamotrigin und Antidepressiva wie Amitryplin oder Amitriptylinoxid meist erhebliche Nebenwirkungen wie Stimmungsveränderungen, Gedächtniseinbußen, Müdigkeit, Gewichtszunahme, Gewichtsabnahme, Tremor oder Haarausfall.
Eine Injektion alle vier Wochen
All diese Nebenwirkungen konnten bei drei aufwendigen klinischen Studien zu Aimovig mit insgesamt rund 2.200 Patienten ausgeschlossen werden. Einzig Rötungen an der Injektionsstelle, leichte Verstopfungen und grippeähnliche Symptome konnten bei einem Teil der Probanden festgestellt werden. Eine langsame Aufdosierung aufgrund von Unverträglichkeiten ist bei Aimovig nicht erforderlich. Und das Medikament kann, wenn es denn beim Patienten anschlägt, seine Wirksamkeit schon nach wenigen Tagen entfalten, während bei den bisherigen vorbeugenden Mitteln ein positiver Effekt erst nach Wochen oder gar Monaten einzutreten pflegt.
Allerdings konnten nur knapp 50 Prozent der Studien-Probanden von Aimovig profitieren. Bei ihnen halbierte sich die Zahl der Kopfschmerztage, und die Schwere der restlichen Attacken konnte reduziert werden. Ein ähnliches Ergebnis ließ sich auch aus einer Studie zur Wirksamkeit des Migräne-Antikörpers Fremanzumab ableiten. Bei etwa 20 Prozent der Patienten schlug das Medikament überhaupt nicht an, einige Probanden wurden hingegen fast oder sogar gänzlich migränefrei. Das wird damit erklärt, dass Aimovig und die drei anderen Antikörper-Medikamente nur dann etwas bewirken können, wenn der am Hirnstamm aktive Eiweiß-Nervenbotenstoff CGRP (= Calcitonin Gene-Related Peptide) die ursächliche Rolle bei der individuellen Migräne-Erkrankung spielt. Denn dieser Botenstoff weitet die Blutgefäße, was bei Migräne-Patienten Entzündungsreaktionen und Kopfschmerzen auslöst. Der Antikörper Erenumab des Medikaments Aimovig, das alle vier Wochen per Injektion von 70 Milligramm, in schweren Fällen auch in höherer Dosis von 140 Milligramm zugeführt werden muss, dockt sich an den Botenstoff an, blockiert ihn gewissermaßen und verhindert dadurch dessen entzündungsfördernde Wirkung.
Zwar spricht die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft bezüglich Aimovig von einem „entscheidenden Fortschritt bei der Vorbeugung von Attacken". Doch sollte man bedenken, dass das teure Medikament nur bei schwer erkrankten Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat verschrieben werden sollte. Zudem lassen sich Aimovig-Resultate wie ein bis zwei zusätzliche migräne-freie Tage pro Monat auch mit den bisher üblichen Vorbeuge-Medikamenten erzielen. „Bei den Durchschnittspatienten", so der Schmerztherapeut und Psychologe Harmut Göbel, Direktor der Kieler Schmerzklinik, im Gespräch mit der österreichischen Tageszeitung „Der Standard", „ist die Wirksamkeit ähnlich wie bei den gängigen Prophylaxe-Medikamenten." Allerdings ohne deren Nebenwirkungen. Auch wenn abzuwarten bleibt, ob bei einer Dauertherapie nicht doch erhöhte Risiken für Herz- und Hirninfarkte auftreten können oder ob die Behandlung für Menschen mit Gefäßerkrankungen womöglich problematisch sein kann. Die neuen Antikörper werden fraglos die Migräne-Prophylaxe erweitern, aber eher als Ergänzung der traditionellen Vorbeuge-Medikamente. Für Patienten mit nicht allzu großem Leidensdruck sind bei Akutbedarf gängige Schmerzmittel oder spezifische Migränemittel aus der Klasse der Triptane, die dem körpereigenen Botenstoff Serotonin ähneln und gezielt die erweiterten Blutgefäße der Hirnhaut verengen können, die bessere Wahl.