Auch Kinder können Migräne bekommen. Was am besten dagegen zu tun ist, erläutert Hartmut Göbel, Professor an der Schmerzklinik Kiel.
Herr Göbel, welche Ursachen gibt es für Migräne bei Kindern?
Wir unterscheiden heute 367 verschiedene Kopfschmerzhauptdiagnosen. „Den" Kopfschmerz gibt es genauso wenig wie „den" Bauchschmerz. Die genaue Differenzierung der Schmerzmechanismen und der Bedingungen, die den Schmerz unterhalten, sind daher von zentraler Bedeutung. Bei den häufigsten Kopfschmerzen, der Migräne und dem Kopfschmerz vom Spannungstyp und bei dem Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerz, sind die Mechanismen heute sehr gut bekannt, man kann auch daher spezifisch in die Schmerzmechanismen eingreifen.
Wie entsteht der Migräneschmerz?
Der Migräneschmerz entsteht durch eine sogenannte neurogene Entzündung an den Blutgefäßen der Hirnhäute. Dort werden bestimmte Nervenbotenstoffe freigesetzt, die lokal eine Entzündung bedingen. Dies führt zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit der Gefäßhäute. Jede Erschütterung, jede Bewegung, jedes Pulsieren und Pochen tut daher weh. Die Auslösung der übermäßigen Freisetzung dieser Entzündungsstoffe entsteht durch eine Aktivierung von bestimmten Nervenkernen im Hirnstamm. Dies ist eine Folge von übermäßigen Regulierungen aufgrund von Energiedefiziten durch erhöhten Energieumsatz in den Nervenzellen. Es sind heute 38 Risikogene für die Migräne bekannt. Sie führen zu einer Verstärkung und Freisetzung der besprochenen Neurotransmitter im Nervensystem. Daraus leitet sich ab, dass die Migränetherapie komplex in dieses Geschehen eingreifen muss, um das Kopfschmerzgeschehen zu stabilisieren. Kopfschmerzen können schwer behindernde Erkrankungen sein, denen biologische Mechanismen zugrunde liegen.
Wie unterscheidet sich die Migräne von den anderen häufigen Kopfschmerzarten?
Beim Kopfschmerz vom Spannungstyp ist nach heutiger Vorstellung eine Erschöpfung der zentralen Schmerzverarbeitung im Gehirn ursächlich verantwortlich. Das körpereigene Schmerzregulationssystem ist durch die übermäßige Inanspruchnahme durch Schmerzreize erschöpft. Schmerzmechanismen können nicht mehr ausreichend reguliert werden und es kommt zu einer zunächst episodischen und bei mangelnder Regeneration zu einer chronischen Überbeanspruchung mit den entsprechenden Schmerzepisoden bis zu einem Dauerschmerz. Die Entstehung des Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch wird mit einer schmerzmittelbedingten Erschöpfung des körpereigenen Schmerzabwehrsystems erklärt. Durch die häufigen Schmerzattacken und die übermäßige Einnahme von akuten Schmerzmitteln wird das körpereigene Schmerzabwehrsystem zunehmend geschwächt und es entstehen zunehmend mehr Kopfschmerzepisoden bis hin zu einem Dauerkopfschmerz am Ende der Entwicklung.
Sie haben jetzt von den Auslösern gesprochen. Lassen sich Spannungskopfschmerzen und Migräne auch an den Symptomen unterscheiden?
Migräne ist eine anfallsweise Erkrankung, die in Zeiträumen von vier Stunden bis zu drei Tagen auftreten kann. Bei Kindern können Migräneattacken auch kürzer auftreten und nur zwei bis drei Stunden dauern. Am häufigsten beginnen die Kopfschmerzen am Morgen nach dem Aufwachen. Sie klingen dann meist bis zum späten Vormittag ab. Dadurch entsteht manchmal der Eindruck, als ob das Kind sich vom Schulbesuch drücken möchte.
Gibt es Präventionsmöglichkeiten?
Wissen und Information sind die beste Medizin. Wir haben daher die Aktion „Mütze" initiiert. Kinder und Jugendliche sollen zu ihren eigenen Kopfschmerzexperten gemacht werden.
Die Comicfigur „Mütze" hat Kopfschmerzen und geht zum Arzt. Der hat viele Tipps, was man tun kann, damit Kopfschmerzen gar nicht erst auftreten. Mit Witz und Charme nimmt Sympathiefigur „Mütze" junge Leute mit auf Entdeckungstour: Woher kommen Kopfschmerzen? Welche Rolle spielen Medikamente? Was bedeutet Prävention und wer kann dazu beitragen, Kopfschmerzen zu vermeiden? Doch der Comic motiviert auch kopfschmerzfreie Leser, sich schlau zu machen und vorzubeugen. Das Projekt richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter zwischen neun und 16 Jahren sowie deren Familien.
Wie erkenne ich, ob die Kopfschmerzen meines Kindes behandlungsbedürftig sind?
Treten Kopfschmerzen bei Kindern neu auf, sollte immer ein Arzt konsultiert werden, der dann eine präzise Diagnose der Kopfschmerzformen erstellt. Diese genaue Diagnose ist Voraussetzung für die weitere Behandlung der Kopfschmerzen. Kopfschmerzen sollten jedoch auch dann einer ärztlichen Behandlung unterzogen werden, wenn das bisherige Therapiekonzept nicht mehr greift. Eine Untersuchung ist auch dann notwendig, wenn neue Symptome auftreten, die Kopfschmerzen häufiger werden, das Auftretensmuster sich ändert oder wenn es ungewohnte Begleitsymptome gibt. Treten Kopfschmerzen auf, die plötzlich ganz anders sind als zuvor, sollte dringend ein Arzt aufgesucht werden. Dies gilt auch, wenn Symptome wie zum Beispiel Nackenschmerzen, Nackensteifigkeit, Fieber, Schüttelfrost, Gelenkschmerzen, neuropsychologische Störungen oder zunehmende Müdigkeit bestehen.
Wie sehen die Behandlungsmöglichkeiten bei Kindern aus?
Gerade bei Kindern sind Information, Wissen und verhaltensmedizinische Maßnahmen die wichtigsten Therapiesäulen. Die Kopfschmerztherapie bei Kindern soll sich nicht auf die Behandlung von Symptomen und kritischen Krankheitszuständen beschränken. Die Therapie muss vielmehr ihr Augenmerk darauf lenken, das seelisch-körperliche Gleichgewicht zu erhalten und wiederherzustellen, die Organfunktionen zu stärken und möglichen Krankheitsmechanismen vorzubeugen. Betrachten muss man dann Faktoren wie die Vermeidung von Stress, Ernährung, Umwelt, Medienkonsum und ständig wechselnde Lichtverhältnisse. Exzessive Sportaktivitäten können ebenfalls zu Migräneanfällen führen. Auch ein unregelmäßiges Leben, Anspannung, Ängste, Stress und psychische Überlastung sind hauptsächliche potente Auslöser für Migräneanfälle bei Kindern.
Was, wenn es nicht hilft, an diesen Faktoren zu schrauben?
Wenn starke Schmerzen auftreten, die sogar mit schwerer Übelkeit oder Erbrechen einhergehen, sollte eine medikamentöse Attackentherapie eingeleitet werden. Bevor jedoch ein spezielles Präparat eingesetzt wird, sollte ein Arzt befragt werden, und es sollten die erforderlichen medizinischen Untersuchungen durchgeführt werden. Auch kann es notwendig sein, dass aufgrund der hohen Anzahl von Kopfschmerztagen pro Monat eine vorbeugende medikamentöse Therapie notwendig ist. Auch dies sollte im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung geklärt werden.
Ist die Krankheit bei Kindern weniger schwerwiegend als bei Erwachsenen?
In jedem Lebensalter kann es schwerwiegende Verläufe geben. Gerade Kinder und Jugendliche können aufgrund von Kopfschmerzen nicht mehr an einem geregelten Leben teilnehmen, müssen die Schule abbrechen und ihr Leben läuft aus dem Ruder.
Wie häufig tritt denn Migräne bei Kindern auf?
73,9 Prozent der Siebtklässler klagen über primäre Kopfschmerzen. Die häufigsten Formen sind die Migräne und der Kopfschmerz vom Spannungstyp. Nahezu 50 Prozent der Betroffenen berichten über Symptome der Migräne – dies sind deutlich mehr, als frühere Studien vermuten ließen.
78,7 Prozent der Kinder mit Spannungskopfschmerzen und 62,1 Prozent der Betroffenen mit migränetypischen Symptomen waren deswegen bisher nicht beim Arzt. 33,8 Prozent der von Spannungskopfschmerz Betroffenen und sogar 40,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Migräne nehmen Kopfschmerzmittel ohne ärztliche Empfehlung.