Dr. med. Berndt Rieger (56) hat sich auf Hormone spezialisiert. Im Interview spricht er über den Einfluss von Hormonen auf Gefühle und Handeln, hormonell bedingte Erkrankungen, Nebennierenschwäche und durch Hormone bedingte Unfruchtbarkeit.
Herr Dr. Rieger, wie kamen Sie dazu, sich eingehend mit Hormonen zu beschäftigen?
Ich erkannte im Laufe meiner Tätigkeit als Internist mehr und mehr, dass ein Großteil der Beschwerden und Krankheiten der Menschen, die für Hilfe zu mir kamen, über das Hormonsystem gelindert oder behoben werden können. Eine starke Schilddrüse ist meist der Schlüssel zur Gesundheit, das ist ein wichtiger Therapieansatz.
Sind wir alle hormongesteuert?
Ja, wir haben etwa 1.000 Hormone, die dauernd in uns Funktionen erfüllen sollen. Wenn es da zu Störungen kommt, weil ein oder mehrere Hormone nicht gebildet werden können, fehlt da etwas. Oder es springen oft andere Hormone ein, und das kann weitere Störungen bedingen. Wenn die Nebenniere schwach ist, lösen Stresshormone des Nebennierenmarks leicht Angstreaktionen aus, oder es tritt ein Gefühl von Schwäche und Mutlosigkeit auf, wo früher Kampfbereitschaft und eher Aggressivität vorhanden waren. Stress regt auch die Sexualität an. Beispielsweise verlieben sich Männer, die gerade eine Mutprobe bestanden haben, leichter in Frauen, denen sie kurz darauf begegnen. Die Hormone unseres Bauchraums bestimmen, was wir gerne essen und wie viel davon, das ist ein starker Impuls, der auch von Botenstoffen ausgeht, die Bakterien und Pilze in unserem Darm in unser Blut abgeben. Wir essen dann, was diese Einzeller essen wollen, und haben einen unheimlichen Appetit darauf.
Können Hormone bei wichtigen Entscheidungen eine Rolle spielen?
Keine Frage. Die Schilddrüse bewirkt, ob wir klar denken können, ob wir Informationen abrufen und nutzen können. Sie verleiht uns aber auch im harmonischen Miteinander mit mehreren Hormondrüsen die Ruhe, die Kraft und die Gefühlsschärfe.
Sind unsere Gefühle meist von Hormonen abhängig?
Ja, extrem. Wir fühlen den Fluss der Hormone, kann man sagen, und die Mischung davon.
Warum sind Hormone die heimlichen Chefs im Körper?
Weil sie stärker unser Zentralnervensystem und unser Handeln beeinflussen als unser Denken das kann. Gefühle sind die Triebfedern des Handelns, und je nachdem, was ich fühle, werde ich mehr oder weniger zielgenau handeln und meinen Weg gehen können.
Werden Frauen mehr von Hormonen beeinflusst als Männer?
Es ist ein Klischee, dass Frauen mehr von Gefühlen bestimmt werden als Männer, und hinter jedem Klischee verbirgt sich auch ein Stück Wahrheit. Der wesentliche Unterschied liegt im Bereich der Geschlechtshormone, wo Männer relativ einfach konstruiert sind, ihr ganzes Leben lang über die Ausschüttung von Androgenen, die fruchtbar machen und sinnlich und Dominanzverhalten und Aggressivität hervorrufen und Kraft verleihen. Bei den Frauen gibt es all das und zusätzlich noch Geschlechtshormone, die es erlauben, ein Kind zu empfangen und auszutragen und sich darum zu kümmern, dass es wächst und sich entwickelt. Dazu braucht man mehr als die Ausstattung eines Mannes, da fließen weit mehr Progesteron und Prolaktin und Oxytocin, jene Hormone, die uns helfen, Leben sich einnisten zu lassen, ein Nest zu bauen, einem anderen Lebewesen Schutz und Sicherheit zu verleihen. Frauen sind also komplexer ausgestattet, was ihnen auch weit mehr Spielraum lässt, ihr Leben auf verschiedene Weisen zu führen.
Wie wirkt sich Stress auf Hormone aus?
Wir beobachten, dass bei einem Großteil der Menschen in unserer Kultur durch Überlastung und Selbstüberlastung in der Mitte des Lebens eine Nebennierenschwäche auftritt, unter der sich oft die Menopause früher ereignet und vor allem die Schilddrüse sich entzündlich verändert und oft auch stark geschwächt wird. Stress gibt es körperlich, geistig und seelisch, das sollte man differenziert betrachten. Vieles stresst den Körper, beginnend mit schlecht bekömmlichen Stoffen, die er – und oft die Schilddrüse im besonderen Maße – aufnimmt und ablagert, darunter vor allem endokrine Disruptoren im Plastik und anderen Kunststoffen und Halogene oder Schwermetalle, die bevorzugt Drüsen angreifen. Aber ebenso wichtig ist der innere Druck, den wir empfinden und dem wir uns stellen und der uns mitunter überfordert und dabei die Hormondrüsen schwächt.
Bei welchen Krankheiten spielen Hormone eine Rolle?
Jede Krankheit hat eine energetische Komponente, bei der sich die Frage stellt, ob die Zellen in den Mitochondrien ausreichend Energie bilden und mit dieser Energie die Zellfunktionen durchführen können. Diese Frage wird wesentlich über die Körpertemperatur beantwortet. Liegt sie zwischen 36,3 und 37,3, habe ich Betriebstemperatur und kann davon ausgehen, dass genügend Jod in den Zellen wirken kann. Ansonsten habe ich einen Jodmangel oder eine Schilddrüsenunterfunktion mit den zahlreichen Beschwerden. Prinzipiell gilt es aber bei jeder Krankheit, diese energetische Komponente zu beachten und zu optimieren. Wenn das gelingt, sind die Heilverläufe schneller und umfassender und mitunter werden sie sogar erst dadurch möglich. Das betrifft ja vor allem die Funktion des Immunsystems. Wenn eine Schilddrüsenunterfunktion besteht, wird der Körper schlechtere Chancen gegen Krankheitserreger haben.
Welche Rolle spielen Hormone bei Depressionen?
Ein Großteil der „Depression" im Alter ist ein Mangel an Schilddrüsenhormonen. Auch andere Hormondrüsen können bei Unterfunktion die Stimmungslage trüben.
Sie thematisieren in Ihrem Buch auch die Nebennierenschwäche und -reizung – ein von der gängigen Schulmedizin unbeachtetes Thema. Welche Probleme kann man hier bekommen?
Zu Beginn einer Nebennierenüberlastung haben die meisten Menschen eine Form der Reizung mit zu hoher Ausschüttung von Hormonen und entsprechenden Beschwerden, darunter vor allem Cortisolüberschuss und Bluthochdruck. Es ist die erste Phase einer Stresskrankheit, die später im Burnout bei Nebennierenschwäche münden kann. Die Amerikaner nennen die Nebennierenreizung gern Stadium 1 der Nebennierenschwäche, doch die Unterscheidung ist wichtig, weil die Therapie sich stark unterscheidet zwischen den einzelnen Stadien. Bei der Reizung habe ich ja eine Nebennierenüberfunktion, die nach und nach über eine Nebennierenfehlfunktion in der Nebennierenschwäche landet, und entsprechend muss ich die Arzneien einsetzen.
Warum beachtet die gängige Medizin dieses Thema nicht?
Zeitmangel und Geldmangel kann man kurz sagen. Es ist ein komplexes Thema, bei dem die medizinische Industrie dazu neigt, wie Alexander der Große den gordischen Knoten einfach durchzuhauen, anstatt ihn mühselig aufdröseln zu wollen. Aber für Betroffene ist eine genauere Betrachtung hilfreich, weil sie dabei die Chance haben, durch den gezielten Einsatz von Heilmitteln wieder ganz gesund werden zu können.
Wie kann man hormonell bedingte Erkrankungen behandeln?
Die Menschen müssen lernen, weniger Kraft abzugeben, das ist wohl das Wichtigste. Dann kann man mit Schilddrüsenextrakt die etwa 30 Schilddrüsenhormone biologisch passend ergänzen, wenn es da ein Defizit geben sollte. Ähnlich kann man mit pflanzlichen Hormonvorstufen der Nebennierenhormone und Geschlechtshormone gefahrlos die Drüsenfunktion stärken und aufwecken. Viele Vitalstoffe haben Bedeutung für die Drüsen, vor allem Vitamin D und Eisen, und oft die B-Vitamine, das ist in manchen Fällen sehr bedeutsam, wo oft nur ein Mangel an einem Vitamin das gesamte Hormonsystem lahmlegt. Jod sollte bei jedem fein dosiert werden, je nach individuellem Bedarf. Die Massage der Hormondrüsen hat eine größere Bedeutung als vielfach bekannt, besonders bei der Schilddrüse, wo eine entzündliche Verklebung oft auf die Nachbarstrukturen übergegriffen hat und man diese Fesselung wieder lösen muss.
Welche hormonellen Probleme können vorliegen, wenn es mit einer Schwangerschaft nicht klappt?
Meist ist es eine Schilddrüsenschwäche, die sich nur schlecht in den Laborwerten spiegelt, aber schon allein durch die Unterfunktionsbeschwerden und Untertemperatur deutlich wird. Viele Frauen mit Kinderwunsch haben Schilddrüsenextrakt vom Schwein bekommen und sind kurz darauf schwanger geworden. Auch die Nebennierenschwäche oder Eierstockschwäche können hier ein Faktor sein. Leider zäumt man das Problem einer Schwäche der Geschlechtsorgane oft vom Schwanz her auf und beschränkt sich in der Therapie auf die Gabe von Östrogenen und Progesteron, das führt nicht so oft zum Ziel. Die Schilddrüse ist sicher die wichtigste der Hormondrüsen, die Unfruchtbarkeit bedingen.
Vor ein paar Jahrzehnten wurde bei den Wechseljahren eine Hormoneinnahme empfohlen, seit einigen Jahren wird sie verteufelt. Sollte man davon besser die Finger lassen?
Generell ja. Je älter die Frau, desto gefährlicher ist der therapeutische Einsatz von Geschlechtshormonen, weil umso unnatürlicher. Also ab 60 eher die Finger davon lassen, in den Wechseljahren aber können diese Hormone ein Segen sein.
Seit einigen Jahren ist es ein Trend, die Pille abzusetzen. Was tut sich Frau Gutes damit?
Viele Frauen erleben mit der Pille eine Östrogendominanz. Davon können sich die Schilddrüse und andere Hormondrüsen entzünden. Man kann diese Östrogendominanz eigentlich sehen, wenn man diesen Frauen ins Gesicht schaut. Es ist blass, hat einen Glanz, die Unterhaut ist geschwollen. Man erkennt es auch deutlich, wenn ein Zyklus da ist und der Verlauf beobachtet wird. Auch die Körpertemperatur liefert hier Hinweise. Wenn sich eine Östrogendominanz zeigt, würde ich diese beheben, gegebenenfalls auch mit dem Absetzen der Pille oder im Austausch mit einer Pille, die vorwiegend mit Gestagenen arbeitet.
Mit welcher Intention haben Sie Ihr Buch geschrieben?
Ich versuche, allen Menschen alles mir Bekannte über Hormone und ihre Wirkungen zu erzählen, samt allen Möglichkeiten, Störungen zu behandeln. Vieles kann man in Eigenregie. Vor allem aber ist es wichtig, dass Betroffene möglichst viele Informationen haben, um die Möglichkeiten am Markt möglichst bewusst nutzen zu können. Mir macht diese Arbeit viel Freude, weil man verschiedenste Krankheiten und Störungen auf diesem Wege erreichen und lindern oder beheben kann.
Womit sind Sie aktuell beschäftigt?
Wir haben in letzten Jahren Patiententage entwickelt, an denen Menschen mit Schilddrüsenkrankheiten untersucht und beraten werden zu Hormonthemen und dabei aber auch die Schilddrüsenmassage erfahren und erlernen können sowie die hormonelle Wirkung von Stimme und Klang. Dieses Angebot wollen wir aufbauen und ergänzen mit neuen Schwerpunkten für Menschen mit Burnout aufgrund von Störungen verschiedener Hormondrüsen. Da werden Information und Therapieempfehlung wichtige Teile sein, aber auch die Nebennierenmassage und verschiedene Formen der Intimmassage, weitere Klang- und Atmungstechniken und vieles andere mehr.