Die Aussicht von der Villa am Sandwerder über den Wannsee begeisterte schon Carl Zuckmayer: Er ließ sich hier zu seinem Drama „Der fröhliche Weinberg" inspirieren. Heute residiert in dem Anwesen das LCB, das Literarische Colloquium Berlin.
Für den Baurat Guthmann war die Villa im Stil eines kleinen Renaissance-Schlosses Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden – bevor sie später in den Besitz des Bankiers Goldschmidt überging, eines Verwandten von Carl Zuckmayer. Der war dann wohl auch der erste Autor, der mit Blick aufs Wasser zu Stift und Papier griff und hier an seinem Werk schrieb, das für viel Beachtung und reichlich Skandale sorgte. „Küche und Keller waren vorzüglich, die Zigarren standen offen zum Gebrauch, und mein Gastgeber war ein reizender Mensch, der außerdem jeden Morgen in die Stadt fuhr und erst gegen Abend zurückkam", lobte der Schriftsteller sein zeitweiliges Domizil. Mit Folgen: Nach Zuckmayer sollten noch viele weitere Autoren und Autorinnen kommen, die das Haus als künstlerisches Refugium nutzten – bis einschließlich heute.
Noch während des Zweiten Weltkrieges wurde Zuckmayers „Schloss am Wannsee" – wie er es nannte – von der Reichsmarine genutzt. 1945 waren es dann die amerikanischen Militärs, die in der Gründerzeitvilla ein- und ausgingen. Das Haus diente jetzt als Offiziers-casino und Hotel. Nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil wohnte 1947 auch die jüdische Schriftstellerin Anna Seghers für einige Monate im Casino-Hotel. Doch allmählich ging es mit dem Hotelbetrieb bergab: 1960 verkaufte die Eigentümerin das Anwesen an das Land Berlin.
Die Idee für ein Literaturhaus
Zu genau dieser Zeit hatten der Literaturprofessor Walter Höllerer und der Schriftsteller Hans-Werner Richter eine zukunftsweisende Idee: die Gründung eines Literaturhauses. „In den 60er- Jahren steckten Literaturhäuser noch in den Kinderschuhen", sagt Jürgen Jakob Becker, der stellvertretende Geschäftsleiter des Literarischen Colloquiums Berlin. „Für Schriftsteller in Deutschland ist es heutzutage einfacher als damals, denn jetzt ist die Infrastruktur besser, es gibt mehr Verlage, mehr Institute."
Hans-Werner Richter war übrigens kein Geringerer als der Initiator der Schriftstellervereinigung „Gruppe 47". Doch schon bevor die Autorengemeinschaft zu weltweiter Berühmtheit und Anerkennung kommen sollte, wurden er und sein Kompagnon Walter Höllerer fündig: Sie erkannten in der Gründerzeitvilla den geeigneten Ort für ihr Vorhaben.
Mit Fördergeldern der Ford Foundation und Unterstützung des Berliner Senats gründeten sie im Jahr 1963 das Literarische Colloquium. Die Villa am Wannsee wurde damit der Ort der „Gruppe 47". Aber auch andere Autoren und Autorinnen trafen sich dort. Sie lasen und führten hitzige Diskussionen. „Hier entstand in ungezählten Begegnungen etwas, was Goethe Weltliteratur nannte: ein Netzwerk von Wahrnehmung und Anerkennung des anderen als Gleichberechtigten", schrieb der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über das Haus. Die Veranstaltungen mit Ingeborg Bachmann, John Dos Passos, Natalie Sarraute, Heimito von Doderer, Günther Grass, Ilse Aichinger, Martin Walser und anderen trafen den Nerv der Zeit. Wahrscheinlich trugen auch die starken Persönlichkeiten der Gründer mit zum Erfolg des LCB bei. So bezeichnete Muschg den LCB-Mitgründer Höllerer einmal als „begnadeten Menschensammler, Anzünder von Talenten, Anstifter zur Gegenwart".
Später hielten weitere Schriftsteller und Schriftstellerinnen von Rang und Namen Einzug ins Literarische Colloquium. Hertha Müller hat dort ebenso gelesen wie Judith Hermann, Italo Calvino, Larissa Boehning, Octavio Paz und Chinua Achebe. Wer sich durch das Archiv des LCB klickt, dem begegnet das Who’s who der internationalen Literaturszene. Darunter nicht nur Prosa-Autoren, sondern auch Lyriker und Lyrikerinnen wie Sarah Kirsch, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Uljana Wolf, Durs Grünbein oder Mitglieder des Berliner Lyrikkollektivs G 13.
100 Events im Jahr
Nach und nach entwickelte sich das Haus vom reinen Veranstaltungs- und Leseforum auch wieder zur Arbeitsstätte und Talentschmiede für Literaten und Übersetzer aus aller Welt. Mit einer eigenen Literaturzeitschrift, zahlreichen Förderprogrammen, Stipendien, Projekt-initiativen und rund 100 Veranstaltungen pro Jahr wurde es auch international zu einer gefragten Anlaufstelle im Literaturbetrieb. Bis Anfang der 90er-Jahre erhielten Filmproduzenten Hilfe durch das Haus; so drehte kein Geringerer als Regisseur Rosa von Praunheim seine Filme mit Unterstützung des LCB.
Wer die Villa am Wannsee heute betritt, den empfangen mit Mahagoni vertäfelte Wände und ein schwarzer Flügel. Vorbei geht es an Konferenzräumen hinaus in den Garten mit besagtem Seeblick. Draußen sitzen gerade der georgische Lyriker Zviad Ratiani und ein Kollege vertieft in ein Gespräch – bei Kaffee und Zigaretten. Ratiani ist nur einer von den internationalen Gästen des Hauses, die für ein bis zwei Monate im LCB wohnen und schreiben können.
Die Ruhe im Garten des Literarischen Colloquiums täuscht fast über den scharfen Wind hinweg, der jenseits des Wannsees weht. „Die Zeiten werden unruhiger und politischer; das hinterlässt Spuren", sagt Co-Leiter Becker. Und auch wirtschaftlich wird es schwieriger für den Literaturbetrieb und die Autoren: Nach einer Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels werden immer weniger Bücher gekauft – so gingen dem Buchhandel von 2012 bis 2016 rund sechs Millionen Buchkäufer verloren. „Auch wir müssen uns damit auseinandersetzen", sagt Jürgen Jakob Becker vom LCB. In Zukunft wolle man sich verstärkt um kulturelle Bildung kümmern. Schon jetzt gibt es eine Kooperation zwischen dem Literaturzentrum und dem Zehlendorfer Drei-Linden-Gymnasium. Übersetzer helfen dabei, Schülern literarische Texte in eine andere Sprache zu übertragen, egal, ob es sich um Gedichte, Romane oder Comics handelt. Lust soll das machen auf mehr Literatur in all ihren unterschiedlichen Formen – und Interesse an den Menschen wecken, die hinter den Textzeilen stehen.