Rachel Childs begibt sich auf die vergebliche Suche nach ihrem Erzeuger, der sie und ihre Mutter verlassen hat, als sie drei Jahre alt war. Obwohl sie damit viel Zeit verbringt, schafft sie es, als Fernsehreporterin Karriere zu machen. Ihr Sender schickt sie zu Auslandseinsätzen, bis sie schließlich auf Haiti, wo sie über die Folgen eines verheerenden Erdbebens berichtet, die Nerven verliert.
Sie kann die Vergewaltigung eines Mädchens unter ihrer Obhut durch plündernde und mordende Soldaten nicht verhindern. Ihr Sender entlässt sie, niemand möchte eine Reporterin sehen, die sich zu Gefühlen hinreißen lässt und dabei die richtigen Fragen stellt. Rachel fällt in ein tiefes Loch – zwei Jahre lang verlässt sie kaum ihre Wohnung. Aus der karrierebewussten Frau wird ein psychisches Wrack.
Bis hierhin wartet der Krimi-Leser immer noch auf die erste Leiche. Die Wende in der Handlung beginnt mit dem Zusammentreffen Rachels mit Brian Delacroix. Er schafft es, die seelisch verletzte Rachel aus ihrer Depression herauszuholen. Anfangs kennt die Verliebtheit keine Grenzen, dann schöpft Rachel Verdacht. Ist Brian wirklich der, der er vorgibt zu sein? Und jetzt erst, am Ende des zweiten Drittels, nimmt die Handlung so richtig Fahrt auf. Jetzt versteht man auch den Titel des Buches. Brian ist in dunkle Geschäfte verwickelt, eine konkurrierende Firma setzt Gangster auf ihn an, die Polizei beginnt zu ermitteln.
Dennis Lehane, der mit „Mystic River" und „Shutter Island" weltweit bekannt wurde (beide Bücher sind verfilmt worden), schreibt hier seinen ersten Roman aus weiblicher Perspektive. „Mystic River" stellt die irischen Einwanderer in den Mittelpunkt, „Shutter Island" der US-Army nachgesagte Menschenexperimente auf einer einsamen Insel. In „Der Abgrund in Dir" blitzt immer wieder der alltägliche Horror der amerikanischen Konsumgesellschaft von heute auf. Das Buch ist eine psychologische Studie, die in eine Krimi-Handlung mündet, bei der es blutig zugeht. Der Anlauf ist etwas langatmig, doch der Krimi-Fan kommt auf seine Kosten.